Kat geht wieder an die Decke. Und ich gehe gerne mit.
Tiffy saß immer auf dem Schreibtischstuhl meines besten Schulfreundes Lenni. Wir haben den Stuhl dann ganz lange gedreht, ohne dass die dicke Katze sich auch nur einen Millimeter vom Fleck rührte. Anschließend nahmen wir das Tier herunter und verloren ein paar Tropfen Pipi vor Lachen, als der knubbelige Fellball mehrfach beim Versuch aufrecht zu gehen auf die Seite plumpste. Gravity Rush 2 ist meine späte Strafe für diese jugendliche Tierquälerei. Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist, falle hoch und springe runter, orientierungslos und ohne Gespür für die Schwerkraft. Plötzlich bin ich die rundliche Miez, bei der sich alles dreht. Doch ist es wirklich eine Bestrafung, wenn ich mein Schicksal ähnlich stoisch ertrage und mich nicht dagegen sträube? Oder gar mehr davon verlange und trotz des zu erwartenden Unbehagens auf ein Safeword verzichte?
Das Ding ist nämlich, dass Gravity Rush 2 die schönsten Schwindelgefühle meiner persönlichen, kleinen Videospielegeschichte auslöst. Wie das Kribbeln im Bauch, wenn sich das Kettenkarussel richtig schnell dreht, man selbst aber daneben im Top Thrill Dragster sitzt und nicht genau unterscheiden kann, ob man Schmetterlinge oder ruckartig hochschnellende Magensäure im Bauch hat.
Die Grundvoraussetzungen des auf der Vita leider etwas untergegangenen Vorgängers bleiben erhalten. Mit der im Gegensatz zu vielen männlichen Videospielprotagonisten erfrischend fröhlichen und unbeschwerten Kat übernehme ich abermals die Kontrolle über die Schwerkraft und erkunde die stark vergrößerte Spielwelt wortwörtlich von oben bis unten. Es ist im Vergleich zu anderen Titeln ein anderes, ein deutlich neugierigeres Erkunden, weil jede Ecke dieser auf drei Ebenen verlaufenden Wolkenstadt mit unheimlich viel Leben und Bedacht gefüllt ist. Sie ist gesäumt von zahlreichen Ständen und Geschäften, dicht bewohnt und zu weiten Teilen so farbenprächtig und detailverliebt, dass mir vor lauter Glücksgefühlen Regenbogentränen in die Augen stoßen.
All diese Eindrücke aufzusaugen fällt mir dennoch schwer, weil der zentrale Aspekt der Gravitationsmanipulation meinen Orientierungssinn permanent auf eine harte Probe stellt. Insbesondere in den Kämpfen, in denen ich mich mit Tritten aus der Luft, dem Herumschleudern von allerlei Gegenständen und Personen, sowie ordinären Hieben gegen die Kauleiste meiner Widersacher zur Wehr setze, fehlt es mir auch nach mehreren Stunden noch ein wenig an dringend benötigter Übersicht, da auch die Kamera regelmäßig herumzappelt wie ein Aal im Putzeimer. Das ist aber zu verschmerzen, da es neben den fast ein wenig niedlich wirkenden Gewalthandlungen in Gravity Rush 2 genug andere Beschäftigungen und Missionen zu erledigen gibt, die von Schleich- über Suchaufträgen bis hin zu besonderen Herausforderungen und Wettrennen reichen.
Diese Aktivitäten sind mal mehr, mal weniger originell, doch führen sie mich stets aufs Neue an interessante Orte, die ich ansonsten glatt übersehen hätte. Die etwas undurchsichtige Hintergrundgeschichte wird dabei zu weiten Teilen über kurze, wundervoll gezeichnete Comicstrips erzählt, doch auch wenn ich diese ab einem gewissen Zeitpunkt lieber überblättern möchte, bekomme ich ein sehr deutliches Bild davon, welche Zustände in dieser Welt vorherrschen. Als ich aus der kunterbunten und lebensfrohen mittleren Ebene zum ersten Mal hinab auf den kargen, luftverschmutzten Boden steige, verdunkeln sich Farb- und Klaviertöne und meine Stimmung mit ihnen. Es ist wie ein kleiner Schlag in die Magengrube diese andere, so triste Region unter der lebensbejahenden Metropole zu entdecken, in der ich kurz zuvor noch einen erwachsenen Mann mit seiner sorgenerfüllten Mutter versöhnt habe. (Ein bisschen unglücklich, wenn auch äußerst amüsant ist übrigens, dass der Knopf für das Ansprechen von NPCs doppelt mit der Eingabe für einen Tritt auf Gesichtshöhe belegt ist. Sorry an dieser Stelle nochmal an die erwähnte Mutter.)
Es folgt ein Wechselbad der Gefühle und Stimmungen, stets untermalt von einem der eigenwilligsten und mitreißendsten Soundtracks, die ich je gehört habe. Von frankophilem 80er-Jahre Softporno-Jazz über operettenhafte Orgelfugen bis hin zu japanischem Hardrock mit Doppel-Bassdrum ist hier alles vertreten, was nie und nimmer vertreten sein dürfte, und das genau deswegen seine volle Wirkung erst so richtig entfaltet. Gravity Rush 2 erweckt dadurch einen etwas eigenbrötlerischen Eindruck, fühlt sich für einen AAA-Titel dafür aber auch ungemein frisch und unverbraucht an. Was es umso bedauerlicher macht, dass dieses Gefühl durch eine sich doch arg in die Länge ziehende Kampagne mit der Zeit spürbar verloren geht. Ich mache deshalb erst einmal eine Pause, um mir den Zauber zu bewahren.
Gravity Rush 2 beschwört mit seiner Leichtigkeit und Abseitigkeit einen wundervollen und dringend benötigten Kontrast zu der Schwere und der aufgesetzten Ernsthaftigkeit anderer namhafter Titel in diesem vollgepackten Frühjahr herauf. Es verliert zu keinem Zeitpunkt sein Augenzwinkern und ist vielleicht genau deshalb leider ein wenig am Massenpublikum vorbeientwickelt, was es nicht weniger attraktiv für all diejenigen machen sollte, die sich nach einem kleinen Ausbruch aus ihrem Videospielalltag sehnen. Es gibt schließlich kaum etwas Schöneres, als einfach einmal runterzukommen, ganz ohne sich Gedanken um den Fallschaden machen zu müssen.