And I ran, I ran so far away, but I'm gonna run to you, because I'm starting with the man in the MIRROR and you gotta keep the Faith who's living on the EDGE. Catalyst.
Mirror’s Edge Catalyst, die Fortsetzung des Ausnahmetitels 2008, wurde lange herbeigesehnt, nur um dann inmitten lauwarmer Kritiken und enttäuschten Erwartungshaltungen unterzugehen. Zu Unrecht, wie unser Autor findet. Also ich. Haha!
Frisch aus der Jugendhaft entlassen, dauert es nur ein Tutorial, und Faith Connors, Protagonistin und gut zu Fuß, fröhnt wieder ihrer Bestimmung: Dem Kurierdienst. Doch statt Pizza liefert sie sensible Daten und Schmuggelware, und statt zu fahren rollt, springt und hangelt sie über die Dächer von Glass, einer fiktiven Stadt mit nicht so fiktiven Problemen.
Bei der einfachen Dienstleistung bleibt es natürlich nicht, und schon bald wird Faith in eine recht persönliche Geschichte verwickelt, die auf bartzwirbelnde Klischeeschurken verzichten kann, nicht jedoch auf gesichtsloses Handlangervolk – ein bisschen Tradition muss ja gewahrt werden. Wird sie im Strudel der Gewalt zwischen Establishment und Revolution ihre Neutralität wahren können, und was hat ihre Familie mit all dem zu tun? Die Antworten lauten nein und so einiges, aber das habt ihr euch sicher selbst schon gedacht. So die Story auch recht überraschungsarm und humorlos daherkommt (die wenigen Ausnahmen erscheinen in Form von gut versteckten, popkulturellen Anspielungen auf etwa Game of Thrones oder Watch Dogs), gefielen mir die Dramatis personae doch sehr gut. Neben Faith als Protagonistin sind auch die meisten anderen der Mover und Shaker in Glass Frauen, mit Eigenschaften, die über ihr Geschlecht hinausgehen, mit Ticks und Narben und Zugriff auf Garderobe, die ohne die Attribute hauteng, dekolletiert oder bauchfrei auskommt. Gerade Plastic empfand ich als wohltuende Variante einer Stereotype, die sonst recht schnell abgeschmackt wirkt.
Um den Spieler nicht gleich in eine zu große Welt zu schleudern, bedient sich Mirror’s Edge Catalyst zarter Metroidvaniaelemente, die Teile der Stadt erst dann erreichbar machen, wenn man das entsprechende Upgrade durch Fortschritt in der Hauptstory freigespielt hat. Die Barrieren sind allerdings so clever gesetzt, dass ich nur einmal kurz im Spiel überhaupt eine solche bemerkte, was dem Spielfluss sehr zugute kam. Außerdem sorgen eine (ausschaltbare) Rotverfärbung der Umgebungsobjekte sowie ein Zielmarker dafür, dass ihr nicht vom rechten Weg abkommt.
Vergleicht man Mirror’s Edge Catalyst mit seinem Vorgänger, wird schnell offensichtlich, dass es sich hier nicht um Spiegelbilder handelt (habt ihr bemerkt, wie geistreich ich einen Teil des Spielenamens in das Review einbaute?); die Unterschiede sind sogar vielfältiger, als es auf den ersten Blick den Anschein hat: Dank des neuen Shiftmoves (ein kurzer Boost in eine beliebige Richtung) mutet Faiths Bewegung im ersten Teil schon fast träge an, das Kampfsystem wurde deutlich verbessert, inklusive dem Verzicht auf Quick Time Events sowie auf das schon in Mirror’s Edge unpassend anmutende Stehlen und Nutzen von Schusswaffen. Auch die Gegnerschar wurde weitestgehend ihrer Fernwaffen beraubt – an dieser Stelle bitte das Jauchzen all jener einblenden, die die Sniperszenen in Mirror’s Edge auch so furchtbar fanden. Der Fokus – sorry – auf den Focus, eine Fähigkeit Faiths, die sie unverwundbar gegen Feindeinwirkung macht, solange sie das Tempo hält und fette Moves macht, tut dem Spiel sichtlich gut und macht die paar wenigen Momente, in denen man im Spiel zum Kampf gezwungen wird, deutlich weniger frustrierend. So auch die Kampfsysteme anderer Open-World-Titel anspruchsvoller und, ja, spaßiger sein mögen, passt dieses perfekt zur Protagonistin und sticht schon allein durch seine Andersartigkeit aus dem üblichen “Hey, wir haben auch Batman gespielt”-Sumpf hervor.
Was die nun offene Welt angeht, ist es ein naheliegender, aber in diesem Fall falscher Gedanke, das “offen” mit “lebendig” gleichzusetzen – das ist es schließlich, was wir von den Open-World-Vorreitern Rockstar, Bethesda und Ubisoft kennen. Ihr wisst schon: Haufenweise NPCs, Tiere, Fahrzeuge, Minispiele, Shops, etc. Von all dem hat MEC kaum etwas. Ein paar flatternde Tauben, Auftraggeber, die auch dann noch regungslos an ihrem Platz verharren, wenn ihre Mission erfüllt ist, und das wahre Leben, der Trubel findet hinter Glas oder viele, viele Meter weiter unten statt. Das hier ist keine lebendige Welt, keine atmende Stadt; diese Spielwelt macht dir bewusst, dass sie eine Spielwelt ist. Und wenn du das annehmen kannst, wird sie dein Spielplatz.
So auch die offene Welt die offensichtlichste Veränderung ist, erscheint mir die schwerwiegendere doch der Genrewechsel zu sein: Klar, auf den ersten Blick springt und klettert man in beiden Teilen über die Dächer einer futuristisch anmutenden Stadt, aber im Detail sind die Unterschiede frappant und für jeden schnell nachvollziehbar, der einen Titel direkt im Anschluss an den anderen spielt: Ist Catalyst in etwa das, was man ein modernes Actionspiel nennt, mit weniger Kampf und einem Haufen Collectibles, fühlt sich das originale Mirror’s Edge mehr wie ein Fluchtsimulator mit Super-Meat-Boy‘schem fail-til-you’re-winning-Gameplay an, das dir dreidimensionale Labyrinthe präsentiert und dir dann wenige Sekunden Zeit lässt, bevor du von ungesehenen Sicherheitskräften erschossen wirst. Und dann wieder ganz von vorn. Wie viel man in geschlossenen Räumen unterwegs war! Und die ganzen Fahrstühle, ich sach euch! Als ekliger alter Mann verteufel ich normalerweise die Vereinfachung, die Glattpoliertheit aktueller Titel, aber Mirror’s Edge Catalyst tat diese Entwicklung furchtbar gut. Ohne Hetze Häuser erklimmen, Wege suchen, Aussichten genießen – das sind Highlights. So gern ich Mirror’s Edge auch heute noch mag, außer First-Person-Umarmungen (die es im neuen Teil nur in Third Person gibt, Skandal!), dem Faktum, dass ihre Schwester sie dort “Effie” nennt und dem schönen Endsong hat es nichts, was Catalyst nicht besser macht.
Was ich in der Form so noch in keiner Spielefortsetzung erlebte, war der narrative Zusammenhang der beiden Spiele, der schlichtweg – Minispoiler – gar nicht existiert. Catalyst ist, wenn man einen Zusammenhang an den Zusammenhaaren herbeiziehen will, ein Prebootquel: Faith selber ist erst am Ende des Spiels die Figur, die wir aus dem ersten Teil kennen, aber ansonsten ist so ziemlich alles anders. Ein paar vertraute Namen, wenige Parallelen, kaum mehr Ähnlichkeiten, als wenn dir jemand die Handlung eines Films erzählt, bei dem er einschlief. Das ist nichts Schlechtes: Die neue Welt ist durchaus interessant, die von Konzernen regierte Stadt erinnert stark an eine hellere, saubere Version von Cyberpunk, Überwachung und Kapitalismus sind Leitthema, und es gibt sogar ein paar coole neue Slangbegriffe, was ich in Sci-Fi immer sehr mag. Wirkt echter, irgendwie. Ich hab halt als Teenager Shadowrun gespielt, das kriegt man nicht mehr weg! Schade nur, dass viel vom Worldbuilding hinter zu findenden Dokumenten versteckt ist, so wird nur ein Bruchteil der Spielerschaft tatsächlich alle Informationen erlangen. Ich wohl auch nicht. Shit’s hard to find, yo!
Der Hauptreiz des Spiels bleibt aber Faiths Bewegung. Allein mit den Schultertasten und gutem Timing eilt sie in Egoperspektive über die Dächer dieser futuristischen Stadt, und ich wünschte, ich hätte die Fähigkeit, euch dessen Faszination greifbar zu machen. Es sind nicht die schwindelnden Höhen – im Temporausch vergisst man vielerorts, dass unter einem der Abgrund gähnt, und in Uncharted oder Assassin’s Creed klettert man auch hoch. Aber hier ist man näher dran, nicht nur wegen der Kameraperspektive, sondern auch, weil man deutlich mehr Einfluss nehmen muss als bei den Kollegen, denen ein sanft nach vorne gedrückter Analogstick reicht, um tollkühnste Sprünge und Kletterpassagen mühelos zu überwinden. Es ist nicht das Herzklopfen, dass jeder Sprung der letzte sein könnte: So man nicht gerade eine Mission auf Zeit spielt, respawnt man ziemlich genau dort, wo man abschmierte, was dem häufigen Tod den Schrecken nimmt. Vielleicht ist es die Simplizität, das, was man in jedem charakterbasierten Videospiel macht, nämlich sich bewegen, in den Spielmittelgrund zu stellen, die Fragestellung “Wie komm ich schnell von A nach B?” als Essenz zu begreifen. Das hier ist Parkour, kein Free Running. Wie ein Tony-Hawk-Titel ohne Tricks: Tempo aufnehmen, abspringen, sauber landen, weiter. Immer weiter. Das hier ist kein Spiel für Menschen, die sich lediglich von Storymission zu Storymission teleportieren wollen. Der Weg ist hier das Ziel. In echt.
Das mag für den einen oder anderen zu wenig sein, und das verstehe ich. Wenn einem die Bewegung keinen Spaß macht und man vom üblichen Open-World-Content-Gedöns wie Collectibles und Time Trials übersättigt ist, bietet Catalyst nur wenig. Ich persönlich brauche immer lange Pausen zwischen zwei Open-World-Titeln, weil mich die Vielzahl an zusätzlichen Aufgaben, die schiere Menge an Zeugs sonst überfordert – ich hatte vor MEC keins seit Fallout 4, kurz nach dessen Erscheinen, gespielt. Vielleicht war das der Grund, wieso mich die Sammelei so erfreute, die weithin sichtbaren Gridleaks weckten gar selige Orbsucherinnerungen in Crackdown; möglicherweise ist mir das Zerstören von Überwachungskameras und das Stehlen von Mikrochips auch schlichtweg sympathischer als das Ausweiden von Wildtieren. Und schlussendlich ist das hier sicherlich auch ein bisschen Wunscherfüllung: Im echten Leben viel zu höhenängstlich, unsportlich und verletzungsaffin, um mich auch nur an den harmlosesten Varianten des Sprung- und Klettersports zu versuchen, bietet mir Catalyst eine wesentlich verlockendere Realitätsflucht als seine Genrekollegen. Your mileage may vary, und das ist voll okay.
Die freiwilligen Aktivitäten teilen sich weitestgehend in drei Bereiche auf: Das Erreichen bestimmter, schwer erklimmbarer Punkte auf der Karte, das Sammeln von Dokumenten, Stimmaufnahmen und Microchips sowie, natürlich, Rennen, sei es gegen die Zeiten von Menschen deiner Freundesliste oder harte Limits. Letzteres, der Transport heikler Objekte, ist ja das, was Faith eigentlich in ihrem Hauptjob macht, und ich empfinde es stets als Wohltat, wenn man den Broterwerb der Protagonisten aktiv miterleben kann (einmal nur will ich mit Mario ein Rohr reinigen!). Die Transportmissionen sind weiterhin aufgeteilt in “Renn’ da rasend schnell hin”, “Renn’ da rasend schnell hin und fall’ maximal einmal aufs Gesicht” und “Renn’ da rasend schnell hin und bleib’ weitestgehend unbemerkt”, will sagen: Fang’ keine Prügelei an und steh’ nicht direkt vor ‘ner Überwachungskamera. In der Praxis halten sich die Unterschiede allerdings stark in Grenzen, denn die gegebene Zeit ist oftmals so knapp bemessen, dass man es sich auch ohne weitere, diesbezügliche Einschränkungen nicht erlauben kann, Zeit mit Auf-die-Fresse-fallen oder -hauen zu verschwenden.
Der Unterschied des Schwierigkeitsgrads zwischen (moderater) Hauptstory und (teils fucking aaaah!) Nebenaktivitäten wird sicherlich den einen oder anderen vor den Kopf stoßen, sicherlich auch, weil es für letztere irgendwann notwendig wird, auf das liebgewonnene Rotverschiebungsnavi zu verzichten, da der markierte Weg oft nicht der schnellste ist. Gleichzeitig zeigt sich natürlich die wahre Tiefe und Qualität der Bewegungssteuerung erst, wenn jede Rolle, jeder Absprung wichtig ist. Zu erreichende Zeiten, die bei ersten Läufen abstrus erscheinen, werden irgendwann schaffbar, und es erstaunt, wieviel schneller man selbst auf kurzen Strecken sein kann, wenn alles gut läuft, wenn Faith gut läuft.
Auf den Dächern der Welt ist natürlich auch Luft nach oben: Ein paar interessante Figuren fallen gen Ende der dann doch irgendwann gar kataklysmischen Geschichte um Kat und den Katalysator einfach weg, und die Prämisse einer frühen Mission, die verteufelt nach Nebenquest riecht, verläuft im Sande. Aber gut, heutzutage weiß man ja nie genau, ob das nicht der Hook für etwaigen DLC wird. Des weiteren wird in einigen Ladescreens beschrieben, wie man Dronen ausschalten kann, aber ich kann mich nicht erinnern, diesen je außerhalb von geskripteten Storyszenen begegnet zu sein. Was soll’s.
Eigentlich wollte ich noch einen beißenden Absatz ob der ach so angesagten medienübergreifenden Veröffentlichungsstrategie schreiben, denn natürlich gibt es auch für Catalyst eine Companion App, und wenn man Faiths Vorgeschichte wissen will (sowie die Hintergründe einiger Figuren), gibt’s dazu das passende Comic. Nun, die App ist immer noch für’n Arsch, aber das Comic fand ich leider überraschend cool. Zum Genuss von Catalyst ist es nicht erforderlich, und es beantwortet auch keine essentiellen Fragen, aber es ist schick gemacht und bietet einen differenzierteren Blick in Faiths Inneres. Wer digitale Comics mag, kann die sechs Hefte bei Dark Horse für $9,99 kaufen.
Viele Grüße,
Euer Hendrik