Sunset Overdrive: Der Boden ist Lava!

Es gibt mittlerweile Spiele, die sind von vorne bis hinten nach allen Regeln der Marketingkunst durchkalkuliert. Grafikstil, Sound, Mechaniken, Belohnungssysteme und Hintergrundgeschichte werden zu einem Konsensmonolithen zusammengepresst, der nach dem kurzfristigen Stillen des kreierten Hype-Hungers nur Leere im Magen zurücklässt. Dass nun ausgerechnet Microsofts neuestes Exklusivzugpferd, das von Insomniac Games entwickelte Sunset Overdrive, anarchisch mit den Blaupausen für großbudgetierte Blockbuster bricht, kann durchaus als erste positive Überraschung gewertet werden. Die zweite, noch viel höher einzuschätzende, ist das Spiel selbst.

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Keine Sorge, Sunset Overdrive ist sicherlich kein avangardistisches Non-Game geworden. Man konnte zwar nach den vergangenen Messepräsentationen den Eindruck gewinnen, Microsofts Konsolensparte hätte den Kontakt zur marktwirtschaftlichen Realität verloren, aber völlig behämmert sind sie dann doch noch nicht. Stattdessen gibt es arcadige Third-Person-Action mit offener Welt, absurd, chaotisch, überdreht und in vielen Momenten eine Hommage an vergangene Dreamcast-Spaßbomben, wie Crazy Taxi oder Jet Set Radio. Es spielt sich wie der LSD-Traum eines Delsin Rowe, alles verschwimmt, wie ein Rausch, der zwar nicht immer angenehm ist, aber dessen Ende man sich dennoch in weite Ferne wünscht. Hier wird niemand an die Hand, dafür, nach einer etwas länger als gewohnt dauernden Vertrautmachung mit Steuerung und Erfolgsstrategien, aber regelrecht in den Arm genommen und ganz fest gedrückt. Weil es einfach unheimlich schön ist, nach all dem graubraunen Einheitsbrei der letzten AAA-Jahre kopfüber in diesen kunterbunten Farbeimer zu springen.

Zu Beginn kann man sich erst einmal seinen eigenen Charakter erstellen. Da Namen Schall und Rauch sind, braucht man hier keinen, dafür kann man auf Wunsch aussehen wie Conchita Wurst. Ist man mit seiner Kreation zufrieden, wird man Zeuge des Ausbruchs der zehntausendsten Zombieapokalypse in einem Videospiel. Nur ist deren Ursache der erfreuliche Vorbote einer Grundstimmung, die vor Selbstironie und Slapstick-Humor geradezu zu platzen droht. Da ich der Ansicht bin, dass sich offene Spielwelten mit narrativer Stringenz beißen, ist es für mich geradezu erholsam, dass hier kein episches Geblubber über irgendeinen Virus und pseudo-bewegende menschliche Schicksale aus den Backen gepupst wird. Stattdessen ist ein überhastet auf den Markt geworfener Energydrink dafür verantwortlich, dass sich ein Großteil der Einwohner der fiktiven, im Jahr 2027 angesiedelten Sunset City, in ziemlich ekelhafte Mutanten verschiedenster Ausprägung verwandelt. Und hoppla, schon sammle ich nicht mehr die leeren Dosen von feierwütigen Hipstern ein, sondern grinde auf Stromseilen, katapultiere mich von Autodächern in ungeahnte Höhen und laufe Wände entlang, als sei ich Statist in einem Madonna-Video. Warum ich das auf einmal kann? Weiß ich nicht, ist mir aber auch ziemlich Latte, solange meine TNT-Teddybär-Kanone meine Verfolger wie einen überreifen Pickel zerplatzen lässt.

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Allgemein fühlt sich einfach alles in Sunset Overdrive unheimlich befriedigend an. Das Trefferfeedback, das wahnsinnig agile Schwingen von einem LKW-Dach zum nächsten Balkon, alles fließt wie aus einem Guss. Dass man möglichst selten Zeit auf dem Boden verbringt, ist auch während kämpferischer Auseinandersetzungen Voraussetzung für das eigene Überleben. So lädt sich etwa eine Poweranzeige bei Aneinanderreihung möglichst intensiver Luftakrobatiken auf, die ausrüstbare Fähigkeiten aktiviert und die Spielfigur spürbar mächtiger werden lässt. Auch die Mutanten, zu denen sich später noch menschliche Plünderer und Kampfroboter gesellen, überwältigen einen in Sekundenschnelle, sollte man sich fatalerweise doch einmal zu einem Strandspaziergang entscheiden. Solche Momente des Scheiterns werden mit einer Reihe unzähliger, komplett alberner Wiedereinstiegsanimationen quittiert, die statt Frust oftmals einen Lacher hervorrufen. Selten wurde das spielerische Ableben so humorvoll kommentiert wie hier.

Klar, über die größtenteils infantilen und flachen Witzchen kann sicher nicht jeder auf dem Boden lachend rollen. Und zugegeben, wie in jedem Film mit Leslie Nielsen ist viel Verschnitt dabei. Dennoch finde ich es einfach herzerfrischend, dass solch ein humoristisches Dauerfeuer auch mal wieder abseits kleinerer Indietitel einen prominenten Bestandteil des Gesamtpakets ausmachen darf. Gerade das Persiflieren gängiger Videospielklischees, inklusive dem Durchbrechen der vierten Wand, mag zwar nicht der originellste Ansatz sein, macht aber die auch in Sunset Overdrive zu Hauf vorhandenen Sammel- und Tötungsquests wesentlich erträglicher. Zumal es sich für mich nie so anfühlt, als würde ich stumpfe Fließbandarbeit verrichten. Dafür ist auf dem Bildschirm schlichtweg zu viel los und der Schwierigkeitsgrad anspruchsvoll genug, um mein Gehirn vor dem Herunterfahren zu bewahren. Und wenn man sich in dem nahtlos integrierten Multiplayermodus mit bis zu sieben anderen Spielern kooperativ um die höchste Punktzahl streitet, bemerkt man vor lauter Partikelchaos die verhältnismäßig dürftige Kreativität beim Missionsdesign sowieso nicht mehr.

Hinter all dem Schabernack und Chaos kann man dann aber doch, ob nun beabsichtigt oder nicht, einen Hauch antikapitalister Konsumkritik erahnen. Die Welt wird von mächtigen Konzernen regiert, der Markt ist dereguliert und auf Gewinnmaximierung aus, die Einwohner von Sunset City werden als undankbare, egozentrische Hedonisten gezeichnet, die jedem Trend blind hinterherjagen und man selbst kann aus dem Wechselspiel von unterbezahlter, erniedrigender Lohnarbeit und dem einsamen Feierabendbier nur deshalb ausbrechen, weil zufällig gerade die Apokalypse ausgebrochen ist. Und, wem das vielleicht noch immer zu subtil ist: Es läuft die ganze Zeit PUNKROCK! Dennoch wird praktisch nichts daran direkt kritisiert, sondern einfach nur kommentarlos abgebildet. Diese Art leises Mahnen in einem ansonsten lauten Umfeld ist eine angenehm unaufdringliche Form des Protests und lässt mein liebesblütiges Herz noch höher für dieses wirklich großartige Spiel schlagen.

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Mit diesem schwermütigen Geseier muss man sich aber nicht wirklich belasten, um Sunset Overdrive lieben zu lernen. Dafür ist es spielmechanisch zu motivierend und ein immerwährender Regenbogen auf der Iris. Es ist das dringend benötigte Gegengift zur spielerischen Tristesse eines Destiny oder Watch Dogs, ein Aufputschmittel für jeden, der lieber früh schlafen geht, als noch einmal ein Assassin’s Creed anrühren zu müssen. Es ist der schönste Sonnenuntergang seit langem.