Alphalevel: Unclaimed World
“Bitte was? Der Pulmonaltrakt ist womit verbunden?” — Ward Conlan starrt fasziniert auf das muschelartige Tier in seinen Händen. “Du solltest das Vieh kochen, nicht sezieren!” antwortet sein Kollege Khan, der kurz vor dem Hungertod steht. Conlan denkt nicht weiter an seine Mitstreiter und trägt das Tier in aller Seelenruhe durchs Camp, bevor er es endlich im improvisierten Kochtopf zubereitet. Das ist Alltag in Unclaimed World.
Wir schreiben das Jahr 2238. Das Raumschiff “Experience”, das vor über 100 Jahren die von Naturkatastrophen geschüttelte Erde verließ, ist auf dem Exoplaneten Tau Ceti b eingetroffen. Die Entdeckung außerirdischer Flora und Fauna hatte die gigantische Expedition ins Leben gerufen, mit dem Ziel, das Überleben der Menschheit auf einem anderen Planeten sicherzustellen. Dass sich die Gründung einer Kolonie als große Herausforderung darstellt, dürfte nicht verwundern. So endet bereits die Landung in einem Chaos, als ein Schwarm aggressiver Raubtiere die Expedition noch vor der Grundsteinlegung zersprengt. Meine kleine Gruppe, bestehend aus vier Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, steigt aus dem Wrack ihres Flugvehikels. Ein Notsignal wird abgesetzt. Nun heißt es, so lange durchzuhalten, bis die Rettungsmission eintrifft. Hier beginnt Unclaimed World, das seit März dieses Jahres als Early Access-Version bei Steam verfügbar ist.
Wer durch die Survival-Sandbox-Roguelike-Welle der letzten Jahre hinreichend geschult wurde, der weiß, was an dieser Stelle zu tun ist: Steine–Stöcke–Stachelzaun. Auf dem isometrischen Spielfeld wird also in klassischer Aufbaustrategie-Manier eine Basis improvisiert. Die Crew weise ich zunächst an, die Umgebung nach Ressourcen abzusuchen. Alles was nützlich aussieht, wird ins Lager gebracht und dort verwertet. Aus Steinen und Äste lasse ich eine Feuerstelle errichten, Isolierfolie und Schilf bilden ein erstes Zelt und im Kühllager, das aus der Klimaanlage des Helikopters konstruiert wurde, werden allerlei essbare Tiere und Pflanzen gesammelt. Gegen die Raubtiere, die nachts ihr Unwesen treiben, helfen zunächst einfache Speere. Für effektivere Waffen, Werkzeuge und Gebäude benötigt man später aufwändigere Verwertungsketten.
So weit, so bekannt. Bemerkenswert ist dabei, dass die Steuerung lediglich indirekt erfolgt. Statt den Spielfiguren Befehle zu erteilen, markiert man stattdessen Zonen im Spielgebiet und weist ihnen bestimmte Funktionen zu. So braucht man etwa Zonen zum Abbau von Schilfrohr, zum Sammeln von Muscheln, zum Schlagen von Holz, zur Jagd oder zur Lagerung. Schnell hat man ein halbes Duzend Kästchen über dem Spielfeld verteilt, deren unterschiedlichen Zweck man an kleinen Icons erahnen kann. Der Bau von Werkzeug wird über ein extra Menü angefordert. Welche Teilnehmer der Expedition, wo oder wann oder wie an die Arbeit geht, lässt sich nicht bestimmen.
Der Spielablauf wird dadurch sehr beschaulich. Die Wissenschaftler schreiten ehrfurchtsvoll über die Landschaft, die grade bei Sonnenauf- und Untergang in spektakuläre Licht- und Schattenspiele getaucht wird. Langsam, Schritt für Schritt, entsteht ein Lager und immer wieder lockern kleine Dialoge das Spielgeschehen auf. Die Kolonisten kommentieren die Besonderheiten außerirdischen Lebensformen, meckern über das Essen und fragen sich, warum sie die vierte Sorte Blätter auch noch sammeln sollen. Das passt hervorragend zu einem Spiel, dessen Konzept einem Wunschtraum gleicht: Gute, harte Science Fiction — ohne intergalaktische Laserschlacht, Zeitreisen oder mystische Prophezeiungen. Sid Meier’s Alpha Centauri – inszeniert als Kammerspiel.
Leider kommt es in der Umsetzung immer wieder zu Problemen. Die indirekte Steuerung mag zwar stimmig sein, fühlt sich jedoch deutlich zu passiv an. Wenn die ganze Crew verhungert, weil alle lieber Holz schlagen oder schlafen gehen, statt Fleisch zu garen, dann läuft etwas grundsätzlich schief. Das grobe Zuweisen von Arbeitsprioritäten in einer unübersichtlichen Tabelle mag zwar temporär Abhilfe schaffen, macht die Angelegenheit jedoch nicht übersichtlicher – zumal die vergebenen Prioritäten gern ignoriert werden. Auch die Zonen, die sich gerne doppelt und dreifach überlappen, tragen dazu bei, dass man zwischen all den Gitterrastern, Rohstoff-Symbolen und Untermenüs den Überblick verliert. Die Siedler oder Banished, die in vielerlei Hinsicht ähnliche Ansätze verfolgen, funktionieren dank der klaren Gebäude- und Berufsstrukturen deutlich besser. Bei Unclaimed World kann man oft nur beten, dass sich Kollege Conlan endlich erbarmt und die verdammten Muscheln grillt!
Unclaimed World, früher Conlan’s Claim, begann 2010 als Freizeitprojekt und wird seit 2012 vom Nordic Game Program gefördert, das auch Amnesia: The Dark Descent oder Brothers – A Tale of two Sons unterstützte. Eine lange Planungs- und Entwicklungszeit also, welche von der aktuellen “Early Access”-Fassung nur bedingt reflektiert wird. Während Engine, Objekte und Animationen weitestgehend vollständig wirken, irritieren im Interface zahlreiche Platzhalter. Vor allem jedoch fehlt es der Steuerung, die vielfach über Menüs, Untermenüs und widerspenstige Schieberegler erfolgt, an Eleganz und Gradlinigkeit. Zur künstlichen Intelligenz der Expeditionsteilnehmer wurde ja schon alles nötige gesagt. Größte Einschränkung ist jedoch der geringe Umfang. Lediglich eine Mission von etwa 30 bis 40 Minuten Länge umfasst die derzeitige Alpha-Version, ohne Speicherfunktion. Anders als bei Kerbal Space Program, Starbound oder DayZ gibt es also vergleichsweise wenig zu spielen. Wer Unclaimed World kauft, der investiert zum aktuellen Zeitpunkt vielmehr in das Projekt, als dass er ein Spiel erwirbt.
Diese Zustände sollten niemanden schockieren, der eine Alpha-Version spielt. Vieles, allerdings nicht alles, wird sich in kommenden Updates anders gestalten. Spielabläufe lassen sich optimieren, künstliche Intelligenzen verbessern und wenn das Grundgerüst stimmt, geht das Design weiterer Level vergleichsweise einfach von statten. Und es stimmt ja auch. Vor allem macht es Lust auf mehr: Hübsche Exoplaneten im Sonnenaufgang, auf außergewöhnliche Lebensformen und eine spannende, reflektierte Geschichte. Auf all das, was gute Science Fiction ausmacht. Vielleicht gibt es ja sogar noch Raumschiffe?