Von Liebe, Verlust und Endstationen.
Das Leben ist eine Reise und der Tod nur eine weitere Station. So oder so ähnlich hat es ja bereits Kästner erklärt. Mit dem Leben als mehr oder minder vernunftbegabtes Wesen geht nahezu automatisch einher, dass man sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinander setzt. So finden sich unzählige Lieder, Bücher, Filme und eben auch mehr und mehr Spiele, die dieses Thema behandeln. Die Kunst hierbei ist wohl, die notwendige Tiefe einerseits nicht nur zu suggerieren, aber andererseits nicht im Klischeesumpf zu versinken.
PaperSeven hat für mich mit Blackwood Crossing genau den richtigen Ton getroffen. Das Adventure erzählt die Geschichte von Scarlett und ihrem kleinen Bruder Finn. Während einer Zugfahrt finden die beiden sich in einer Traumwelt wieder, in der der Zug durch gemeinsame Erinnerungen an Freunde und Familie, insbesondere jedoch an die verstorbenen Eltern verändert wird. So finden sich sowohl das Gartenhaus des Großvaters als auch das Baumhaus der Geschwister im Zug, der das zentrale Mittel ist, das mich durch die Welt von Scarlett und Finn trägt. Das Spiel behandelt den Konflikt der Geschwister, der nach dem Tod der Eltern entstand. Finn fühlte sich von Scarlett allein gelassen, als diese sich ihrem Freund zuwandte und ihre Kindheit – und damit in seinen Augen auch Finn – hinter sich ließ. Als Scarlett sehe ich mich nun damit konfrontiert, dass dieser unterschiedliche Umgang mit dem Verlust dazu geführt hat, dass Finn sich vor mir versteckt und ich ihn in der unwirklichen Parallelwelt suchen muss. Jedes Mal, wenn ich einen Konflikt gelöst habe, erwache ich doch nur wieder im Zug, in einer weiteren Welt aus Erinnerungen, die ich richtig zusammen puzzeln muss, um meinem Bruder folgen zu können. Im Laufe des Spiels erlange ich dabei Kontrolle über Leben, Feuer und Schatten, um dadurch die Welt beeinflussen zu können. Nur der Tod bleibt unbeherrschbar.
Finn und ich schließen zwar nach und nach mit Streitigkeiten aus unserer Vergangenheit ab, doch zwischen uns steht weiterhin der Verlust unserer Eltern. Während Scarlett sich an sie erinnern kann, war Finn zu jung, als sie verstarben. Und während Finn verzweifelt versucht, sich wenigstens an ihre Gesichter zu erinnern, die er in der Traumwelt mangels Erinnerung mit Papiertiergesichern maskiert, weigert sich Scarlett, die Erinnerungen zuzulassen und sie mit Finn zu teilen. Entsprechend kann sie Finn nur folgen, wenn sie Erinnerungen richtig zusammensetzt. Diese umfassen nicht nur die verstorbenen Eltern, sondern auch die Großeltern, bei denen die Geschwister schließlich aufwuchsen, sowie Scarletts Freund und Personen aus Finns Schule. Es geht nicht nur um diejenigen, die verloren wurden, sondern auch um diejenigen, die danach den Geschwistern noch erhalten blieben. So finden beide im Laufe des Spiels, so gut es eben geht, Frieden mit dem Verlust.
Innerhalb einer durchschnittlichen Spielfilmlänge wecken PaperSeven eine Fülle von Emotionen, zu denen nicht nur die Sorge um Finn und Trauer aufgrund der Fehler der Vergangenheit gehören, sondern auch ein klammes Gefühl, dass hinter all dem noch viel mehr verdrängte Erinnerungen stehen. Die Geschichte entfaltet sich durch die Spielmechanik des Erinnerungenpuzzelns so unaufdringlich und natürlich, dass sie nicht dem Fluch der schweren Erzählung mit unendlicher Charakterentwicklung unterliegt. Vielmehr handelt es sich um ein kurzweiliges Versteckspiel zwischen zwei Geschwistern, die sich nicht nur voreinander, sondern auch vor der Vergangenheit und dem Verlust verstecken. Auf diese Weise fällt es auch kaum auf, wie redundant diese Spielmechanik selbst ist. Denn letztlich puzzele ich immer wieder Gesprächsfetzen der gleichen acht Personen (Eltern, Großeltern, Scarletts Freund, Finns Mitschüler und Lehrerin sowie ein geheimnisvoller Hasenjunge), um den nächsten Abschnitt freizuschalten. Ab und an wird mein Weiterkommen von Schatten versperrt, zu denen ich dann Feuer trage oder die ich ins Licht ziehe. Auf spielerisch anspruchsvolle Szenen verzichtet PaperSeven. So dramatisch, wie im Trailer suggeriert, wird es nie. Selbst schwierig oder brenzlig wird es nicht, sodass die emotionale Geschichte und weniger die Spieleraktion das Spielerlebnis ausmachen.
Dieses “Wie” des Vorankommens auf dieser Ebene der Spieleraktion ist nebensächlich. Bei Blackwood Crossing steht die Geschichte über Familie, Liebe und Verlust im Vordergrund. Das wird nicht als Ausrede genutzt, sich aus Verlegenheit um entsprechende Spielmechanik zu drücken, sondern funktioniert gut. Es wird zur Nebensache, dass ich spiele. Vielmehr bin ich Beobachter. Ich habe Mitleid mit den verwaisten Geschwistern und sorge mich mehr und mehr, ob deren Schicksal nicht noch komplizierter und trauriger ist, als es ohnehin schon scheint. Denn eine Sache kontrolliere ich wie gesagt nicht: den Tod. Und dieser scheint allgegenwärtig, sodass ich mich irgendwann nicht mehr nur darauf konzentrieren kann, als Scarlett meinem Bruder bei der Verarbeitung seines Verlustes beizustehen, sondern mich auch mit meinem eigenen auseinandersetzen muss, als ich plötzlich statt wie gewohnt im Zug zu erwachen, von Finn auf eine geheimnisvolle Insel geführt werde.
PaperSeven hat es geschafft, dass ich mich nach einem Spiel über den Tod gut fühle. Das bedeutet, dass es entweder ein gut erzähltes Spiel ist oder ich ein schlechter Mensch. In diesem Fall würde ich behaupten, dass ersteres der Fall ist.