Blast from the Past: Grim Fandango

Blast from the Past: Grim Fandango

Adventures sind die Spiele meiner Kindheit. Lange war das Adventure für mich die Essenz des Computerspiels überhaupt: Verrückte Geschichten, exotische Welten, nervenaufreibende Rätsel und das unvergleichliche Glücksgefühl, wenn ich nach tagelangem Verzweifeln plötzlich den Durchbruch geschafft hatte. Mehr, dachte ich, könnten mir Spiele niemals bieten. Sicher, das war ein voreiliges Urteil. Und ab und zu brauchte auch ich schon damals eine Runde Prince of Persia, damit der Kopf frei war für weitere Stunden King’s Quest oder Monkey Island. Trotzdem: Nichts war so aufregend wie ein neues Adventure. Und nichts konnte ich so gut gemeinsam mit meiner jüngeren Schwester spielen. An einem PC, für den ich zwar mein Sparbuch geplündert hatte, der aber als erster seiner Art in einem Fünf-Personen-Haushalt sofort zum Kollektiveigentum wurde. Doch die Welt drehte sich weiter, ich wurde älter und das Genre hatte seinen Zenit überschritten. Ich dachte nicht, dass mich noch einmal ein Adventure vom Hocker reißen könnte. Was sollte da noch kommen, nach dreimal Monkey Island, nach Zak McKracken, nach diversen Sierra-Quests? Es kam: Grim Fandango.

Als mir Grim Fandango in die Finger fiel, studierte ich und wohnte nicht mehr bei meinen Eltern, das Geld war knapp und der Rechner entsprechend unterperformant. Deshalb war diese Phase eine der wenigen, in denen ich kaum spielte. Grim Fandango sorgte für eine Wiedererweckung meines Spieltriebs, denn es war auf den ersten Blick außergewöhnlich: Die Geschichte um den Skelettmann Manny Calavera, der sich für das „Department Of Death“ als Reiseberater für frisch Verstorbene verdingen muss, um sich irgendwann den Übergang ins Reich der ewigen Ruhe zu erarbeiten, ist sicher eine der originellsten der Spielgeschichte. Sie wäre aber nur halb so mitreißend ohne ihre exzellente Inszenierung, die mexikanische Mythologie mit den Stilmitteln des Film Noir kombiniert.

Heute haben mexikanische Traditionen über den Nachbarn USA längst Eingang in die Populärkultur gefunden und damit auch in das Medium Computerspiel. Wem dazu nur Viva Piñata einfällt, der hat die letzten Jahre sehr fest geschlafen, aktuelle Beispiele gibt es zur Genüge: Vom Tag der Toten-Level in Little Big Planet bis zur Fiesta De los Muertos-Welt in Rayman Legends, vom Indie-Plattformer Guacamelee!, der die Tradition des Lucha Libre zum Thema hat bis hin zu GTA V, in dem wir für unsere Raubzüge aus einer großen Zahl der aus dem Lucha Libre stammenden bunten Wrestlingmasken wählen können. Die bunte mexikanische Folklore ist längst Teil des kulturellen Mainstreams.

Blast from the Past: Grim Fandango

Als Grim Fandango erschien, war das noch anders. Riesige Piñata-Luftballons und Calaveras hatte ich zuvor noch nie gesehen, der Exotikfaktor war enorm. Dennoch ist Grim Fandango alles andere als ein folkloristisches Spiel. Es nutzt die mexikanischen Todesmythen als kulturellen Hintergrund für die Handlung, bezieht sich stilistisch jedoch auf den Film Noir und unterfüttert das düster-bunte Setting mit Art-Deco-Architektur und einem exzellenten Soundtrack aus lateinamerikanischen Rhythmen, Jazz und Swing. In dieser stimmungsvollen Atmosphäre kann sich die tragikomische Geschichte um Manny Calavera, der in seinem Job einen Misserfolg nach dem anderen erlebt und unvermittelt einer großen Betrugsaffäre auf die Schliche kommt, erst richtig entfalten. Und obwohl es beileibe kein Spiel ohne Humor ist, machen der kulturelle Unterbau und die klassische, düstere Inszenierung Grim Fandango zu einem erwachsenen Adventure, wie es frühere LucasArts-Spiele nicht sein konnten oder wollten.

In der Handlung ließ sich, wenn man wollte, sogar eine sublime Botschaft entdecken: Hier wurde die mexikanische Tradition, den Tod als Teil des Lebens zu betrachten, radikal weitergedacht. Der Tod war nicht mehr nur Teil des Lebens – er war das echte, wahre Leben. Ich finde diese Idee bis heute charmant: Grim Fandango zeigt die Verkehrung der Welt, wie wir sie kennen, in ihr Gegenteil. Das wird am deutlichsten in der dekadenten Hafenstadt Rubacava, die Manny im zweiten Jahr seiner Reise bewohnt. Hier wird gelebt, als ob es kein Morgen gäbe. Mannys Casino hat nie geschlossen, Glottis beweist als Barpianist ganz neue Qualitäten, im Club The Blue Casket trägt Manny abgeklärten Beatniks selbstverfasste Poesie vor, während an den Tischen revolutionäre Gedanken ausgetauscht werden. Die High Society vergnügt sich beim Katzenrennen, während bei Toto dem Tätowierer Matrosenknochen verziert werden. Ganz anders sieht die Welt der Lebenden aus. Sie wird im Spiel auf geniale Weise in Form von statischen, verstörenden Pop-Art-Collagen dargestellt. Es ist eine artifizielle, kalte und paradoxerweise leblose Welt. Wenn Manny anmerkt, dass die Lebenden bei ihm immer noch Gänsehaut verursachen, kann ich das nachvollziehen.

Als reifere Variante von Monkey Island kam Grim Fandango für mich mit Anfang 20 genau richtig: Ein Adventure konnte also sein wie ein Agentenfilm aus den 40ern – mit Figuren, die Anzüge trugen und rauchten, und mit Jazzmusik! Ich hatte auch zuvor nicht geglaubt, dass Computerspiele nur etwas für Kinder waren, doch plötzlich war mir klar wie nie, dass Erwachsene nicht nur spielen durften, sondern sogar spielen sollten und mussten. Grim Fandango fühlte sich an wie der Beginn einer neuen Zeitrechnung, der Auftakt zu einer Reihe von Adventures einer neuen Generation: atmosphärisch, anspruchsvoll, atemberaubend. Gar nicht auszudenken, was für Meisterwerke, auch in Anbetracht der rasanten Fortschritten in der 3D-Technik, da noch auf uns zukommen würden!

Blast from the Past: Grim Fandango

Natürlich kam es ganz anders. Grim Fandango war nicht der Auftakt zum Adventure 2.0, sondern der Anfang vom Ende der großen Abenteuerschmiede LucasArts. Zwar wurde das Spiel mit Spitzenbewertungen und Preisen überhäuft, es entwickelte sich aber dennoch nicht zu dem kommerziellen Überflieger, der es aufgrund seiner Qualitäten hätte sein müssen. Die Ursachen dafür werden heute in zwei Bereichen vermutet: Einerseits waren viele Spieler mit der ungewohnten Steuerung des 3D-Adventures überfordert. Im Vergleich zum klassischen Point-and-Click wurde Manny Calavera mit der Tastatur oder via Gamepad gesteuert, und das gelang leider oft nur sehr unpräzise. Damit wurde die Entscheidung, ein 3D-Adventure zu veröffentlichen, für LucasArts zu einer existentiellen.

Glottis

Das ist schade, denn vergisst man für einen Moment die Steuerungsprobleme, dann trägt gerade die Dreidimensionalität viel zur Atmosphäre des Spiels bei: Die schummrige Ausleuchtung der Welt, die Schatteneffekte, die radikalen Kameraperspektiven wären in einem zweidimensionalen Setting nicht machbar gewesen. Hinzu kommt, dass im Gegensatz zu früheren Adventures kein sichtbares Interface mehr nötig war – selbst ein Inventarmenü gab es nicht. Auf Tastendruck zog Manny alle Gegenstände, die er mit sich führte, einfach der Reihe nach aus seinem Mantel. Auch wenn die Bedienung des Inventars umständlich schien, besonders, wenn sich sehr viele Gegenstände angesammelt hatten, behob diese Lösung doch das klassische Genreproblem, dass die üblichen Interfaces das völlige Eintauchen in die Spielwelt unterminierten. Grim Fandango gewann dadurch eine geradezu filmische Qualität und war vielleicht das erste Adventure, das Immersion möglich machte. Und im Gegensatz zu vielen Spielen aus der Frühzeit der 3D-Grafik sieht es heute immer noch hübsch aus. Das liegt an den detaillierten vorgerenderten Hintergründen, aber auch an den Figuren selbst. Wären Manny und Konsorten menschliche Figuren, sie wären aus heutiger Sicht vermutlich schauderhaft eckige Polygonmonster. Mit den Skelettfiguren hat LucasArts einen schlauen Weg gefunden, die Kantigkeit und das Holzschnittartige der Figuren zum Teil der Geschichte zu machen. Und selbst die Dämonenfigur Glottis, der überdimensionierte Autoschrauber und passionierte Tuner, ist mit bescheidenen technischen Möglichkeiten so überzeugend modelliert wie es Ende der Neunziger nur ging.

Die zweite Ursache für Grim Fandangos bescheidenen Erfolg lag außerhalb des Spiels: Die Veröffentlichung von Grim Fandango fiel 1998 in die ungnädigen Jahre des Abenteuerniedergangs – Adventures galten nicht mehr als State-of-the-Art, andere Genres wie Rollenspiele und Shooter hatten in Sachen Storytelling aufgeholt und verkauften sich besser als die noch sehr statischen und technisch leicht antiquierten Adventures. Auch wenn LucasArts noch einige weitere Abenteuertitel folgen ließ, war Grim Fandango der Schuss vor den Bug, der signalisierte, dass die Zukunft für das Studio fernab des Adventure-Genres zu suchen sei. Heute wissen wir, dass der Ausstieg aus dem Adventurebusiness den Tod von LucasArts auch nicht verhindern konnte. Das Studio wurde abgewickelt, ausgerechnet jetzt, wo doch so viele gute Adventures erscheinen wie lange nicht mehr. Mir bleibt die Erinnerung an die wunderbaren Adventure-Jahre meiner Jugend und an Grim Fandango, das der unübertroffene Abschluss einer Epoche werden sollte.


In der Serie Blast from the Past berichten Superlevel-Autorinnen und -Autoren über prägende Spiele und Spielerlebnisse aus der Kindheit und Jugend. Wir freuen uns über einen regen Erinnerungsaustausch in den Kommentaren.