Blast from the Past: Wonder Boy

Nachdem meine Mutter sich von meinem Vater scheiden ließ, machte sie sich mit einem Schnellimbiss selbständig, um von Staat und Ex-Mann finanziell unabhängig zu sein. Der klitzekleine Imbiss befand sich am Ortseingang meines Heimatsdorfes im ländlichen Schleswig-Holstein. Meine Mutter arbeitete täglich von früh bis spät und wenn ich sie tagsüber sehen wollte, musste ich aktiv werden. Also schwang ich mich regelmäßig nach der Schule aufs Fahrrad und forderte nebst einer kleinen Portion Aufmerksamkeit eine große Portion Pommes ein. Und ein Kaltgetränk.

Wenn die Blase drückte, musste ich die Toiletten eines Hotels aufsuchen, das sich direkt neben dem Laden meiner Mutter befand. Naja, die Bezeichnung Hotel ist vielleicht etwas hochgegriffen. Letztlich handelte es sich um einen ranzigen Gasthof, der auch ein paar Fremdenzimmer anbot. Gäste sah ich in den ganzen Jahren so gut wie nie. Egal. Jedenfalls musste ich eines Tages aufs Klo, betrat den Gasthof wie gewohnt durch den Hintereingang und da stand er plötzlich im Flur und strahlte mich an: Ein “Wonder Boy”-Arcade-Automat.

Ich war damals etwa zwölf Jahre alt und hatte bisher nur wenige aktive Erfahrungen mit Video- oder Computerspielen machen können. Der große Bruder eines Freundes besaß zwar einen C64, aber den durften wir nur selten benutzen. Und da stand ich nun, auf alten knarrenden Holzdielen. Ich erinnere mich noch an den leicht modrigen Geruch, der immer in der Luft lag. Alles wirkte stets so gestrig und leblos in dem Haus. Wonder Boy sollte das ändern. Jedenfalls für mich.

Ich wusste noch nicht sehr viel von der Welt, aber ich wusste, dass meine Mutter sehr spendabel war. Im Nachhinein betrachtet hatte sie wohl ein schlechtes Gewissen, so viel arbeiten zu müssen und kompensierte ihre Abwesenheit mit einem lockeren Geldbeutel. Zu der Zeit durchblickte ich aber nicht die Traurigkeit dahinter, sondern zog meinen Vorteil aus der Situation. Also kehrte ich schon bald mit einigen Münzen in der Hosentasche zurück und fütterte fleißig den Automaten.

Es galt ein Wonder Girl aus den Fängen eines Wonder Bosses zu befreien. Das Übliche also. Der leuchtende Bildschirm, die bunten Knöpfe und die digitalen Klänge übten sofort eine Faszination auf mich aus. Wonder Boy war ein Platformer mit klar definierten Regeln, die nicht groß erklärt werden mussten: Hüpfen, ausweichen, Monster töten und bloß nirgends runterf… Mist. Tot.

In den Welt von Wonder Boy konnte man Eier finden, in denen sich sammelbare Extras befanden. Direkt zu Beginn gelangte der blondhaarige Boy so an einen Wurfhammer, mit dem er sich gegen seine Gegner behaupten konnte. Nur wenige Schritte später stieß man auf ein zweites Ei, das ein Skateboard in sich verbarg. EIN SKATEBOARD! Das war so cool und so fatal. Cool, weil Skateboards natürlich cool waren und fatal, weil Blondie auf dem Skateboard zwar schneller, aber im Gegenzug nicht zu stoppen war. Dieser Umstand ließ mich nur noch nervöser werden. Dennoch zog ich das coole kurze Leben einem längeren uncoolen vor. Ihr müsst das verstehen: Der Protagonist fuhr nicht nur auf einem Skateboard, nein, er trug dabei auch einen Helm und sah ganz fantastisch aus.

Obwohl Wonder Boy ein gut erlernbares Spiel war, scheiterte ich selbst an guten Tagen spätestens in der dritten von den sieben Regionen. Immer und immer wieder. Nicht, weil die Level unfair wären, sondern weil mir meine Aufregung regelmäßig einen Strich durch die Rechnung machte. Die Nervosität verleitete mich im Wechsel zu Unachtsamkeit und Übermut, bis die Credits und schließlich auch die Münzen aufgebraucht waren. Zumindest für den Tag.

In dem Jahr besuchte ich meine Mutter besonders häufig. Pommes, Kaltgetränk, Wunderjunge. Herrlich. Zum nächsten Weinachtsfest bekam ich einen eigenen C64 geschenkt und kurz darauf auf dem Schulhof eine Raubkopie von Wonder Boy zugeschoben, wodurch der Automat natürlich seinen Reiz verlor. Zum Leidwesen meiner Mutter, die mich seitdem deutlich seltener zu Gesicht bekam. Der Automat stand noch jahrelang in dem Gasthof, und irgendwie habe ich das Gefühl, ich sei der einzige Mensch im Dorf gewesen, der diesen Schatz für sich entdeckte.