Even Cowgirls Bleed oder: Eine Twine-Love-Story

Even Cowgirls Bleed

“So really, you did the only sensible thing a girl can do: you picked up your petticoats, you bought yourself a gun, and you headed out west.”

Ich liebe Twine-Spiele. Stellt euch den Satz bitte in haushohen, laut surrenden Las Vegas-Neonleuchten in Buchstabenform geschrieben vor. Ich liebe sie von ganzem Herzen. Selbst Code-Zeilen in Zehntausendschaften, selbst jede noch so teuer und hochwertig produzierte 3D-Grafik oder jedwede orchestrale Untermalung sind ein Witz gegen das, wozu die Fantasie des Menschen fähig ist, setzt man sie denn einiger sorgfältig ausgewählter Worte aus.

Gefangen zwischen zwei Stühlen, beschnitzt mit den ehrlichen Phrasen „zu viel Literatur, um ein Spiel zu sein“ und „zu viel Spiel, um Literatur“ zu sein, wirkt sie vornehmlich abschreckend: Interactive Fiction wird von Spielern und Lesern gleichermaßen mit Skepsis betrachtet, sie sei ja nichts als langweilige Zeitverschwendung aus der Feder derer, die sich nicht dazu aufraffen konnten, Engines zu programmieren und Grafiken zu gestalten, gemacht für jene, die so viel lesen, dass sie auch den Beipackzettel jeder Schachtel Aspirin mit Begeisterung verschlingen.

Die wenigsten würden abstreiten, dass Christine Love eine ausgeprägte Vorliebe für ausgefallene, textlastige Werke hat: Die junge Entwicklerin der Visual Novel-Erfolge Digital und Analogue könnte mit stets bunt eingefärbter Haarpracht und eigenartiger Aura zweifelslos selbst einer Visual Novel – oder aber einer Punkrock-Band – entsprungen sein und präsentierte das 2010 erschienene Digital in Form eines Bulletin Board-Systems der Achtziger, in dem die Spieler den mysteriösen Toden künstlicher Intelligenzen nachgehen.

Hierbei ist nicht nur die unübliche Form bemerkenswert, sondern vor allem ihre Rechtfertigung: Love, die sich eigenen Aussagen zufolge eher als Autor denn als Spielemacher sieht, hätte das zugegeben sehr lineare Spiel ebenso gut in Form herkömmlicher Prosa veröffentlichen können, wählte aber die interaktive Fiktion als Instrument um hungrigen Augen mehr zu bieten als die bloße Lektüre eines Textes. Spieler nehmen so aktiv am Aufbau des Schriftstücks teil, entscheiden an vorgegebenen Stellen, wo es als nächstes hingeht und sehen, wie ihre Handlungen die Geschichte an unzähligen Abzweigungen entlang plätschern lassen.

Ren’Py, das freie Programm zur Erstellung von Visual Novels, dem neben Loves Liebes- und Hass-Double-Feature auch die – verzeiht meine Ausdrucksweise – Krüppelmädchenromanze Katawa Shoujo entsprang, ist nicht wie Twine. Nach getaner Arbeit werden mit Ren’Py Geschichten in Form lauffähiger Dateien für gängige Betriebssysteme ausgespuckt, sie landen aber erst im Kopf der Spielerschaft, wenn sich diese zu Download und Ausführung überreden lässt.

Twine. Twine ist unheimlich schnell. Spiele, die mit Twine gemacht wurden, sind in die Form einer herkömmlichen Website gegossen, erfordern keinerlei Plug-in (wie Flash oder Unity) und sind verzögerungsfrei in jedem Browser spielbar. Twine-Spiele erklären sich von selbst – und in Sekundenschnelle. Sofort fallen irgendwo auf den meist düsteren Hypertext-Leinwänden einzelne Worte in grellen Farben auf: Verknüpfen zur nächsten Passage, zum nächsten Häppchen der Geschichte.

Das durchschnittliche Twine-Spiel fühlt sich starr an, es bewegt sich nichts, alles sieht irgendwie… alt aus. Doch genau an dieser Stelle, an der vermutlich eine schmerzliche Quote der Besucher seufzend das Tab schließt, trügt der Schein gewaltig. So ist die Geschichte entgegen vieler Erwartungen meist innerhalb weniger Minuten fertig erzählt und erfordert lediglich eine handvoll Klicks, um ihr Ende zu finden. Zeigefingerbewegungen, die uns anderswo in spektakulärer Bedeutungslosigkeit ein paar Kugeln in die Gesichter virtueller Widersacher versenken lassen, geleiten uns hier durch zuweilen höchst persönliche Nacherzählungen invidueller Erfahrungen, die in erstaunlicher Weise aufmuntern, bedrücken, erklären, nie zu träumen gewagte Pfade beschreiten und schlichtweg faszinieren.

Spiele über Liebe, über Hass, über den ersten Schultag oder gequälte Kindheiten, über beschissene Jobs, das Leben, das Sterben, über verrückte Träume und völlig Unerklärliches, seien es Kristallkriegerinnen oder Waschbär-Monarchen – Twine hat sie alle. Twine-Spiele sind so vielfältig und einzigartig wie ihre Macher und werden jeden Tag mehr. Besonders in Zeiten, in denen ein unangenehmer Großteil der Spiele-Veröffentlichungen auf die traurig anmutende Zeichnung einer Zielgruppe zugeschnitten ist, tut es gut, einem Extremum zu begegnen, dessen peinlich generische Handlung sich nicht in wenigen Augenblicken vorhersehen lässt.

Twine-Spiele lassen sich in ähnlich hoher Geschwindigkeit erleben, in der sie entwickelt werden. Textpassagen werden in einer simplen grafischen Oberfläche als Blöcke erzeugt, getextet und mit Linien verbunden, um eine Art Spinnenetz zu bilden, das den späteren Spielverlauf und seine möglichen Pfade spiegelt. Das „Netz” kann dabei jede erdenkliche Form und Anzahl an Abzweigungen innehaben – möglich ist alles von einer geraden Linie bis zur Zettelwirtschaft von John Nash in A Beautiful Mind. Die Grundlegenden Funktionen sind in wenigen Minuten erlernt, erfordern weder Programmierkenntnisse noch handwerkliches Geschick und zielen voll und ganz auf das wesentliche ab: Das Erzählen einer interaktiven Geschichte.

Selbstverständlich lässt sich aus Twine mehr herausholen als die rudimentäre Basis – einsamer, weißer Text auf schwarzem Hintergrund – zunächst hergibt. Mittels einiger zusätzlicher Zeilen lassen sich breitgefächerte Mechaniken einfügen, die die Spielerfahrung aufwerten oder sogar gänzlich bestimmen. So finden hübsche Bilder, der treibende Zeitdruck, Musik oder ganze Rollenspiel-Systeme ihren Weg in das schlanke Game-Making-Tool, dessen Macher ganz wahrscheinlich nie mit dererlei Abweichungen gerechnet hätte. Die einen nutzen dafür CSS und JavaScript, andere schlagen dem Spieler einfach ungezwungen vor, nebenbei den passenden Soundtrack laufen zu lassen. Twine und seine Nutzer scheißen auf Konventionen. Punkrock!

“Next thing you know, you’re in her apartment, being slammed against a wooden wall in exactly the way you’ve always dreamed of.”

Christine Love und Even Cowgirls Bleed sind Ausreißer. Es ist ihr erstes veröffentlichtes Twine-Projekt und erzählt die Geschichte eines Großstadtmädchens, das sich in den Wilden Westen aufmacht und nebenbei ihre Eigenschaft, vorzugsweise mit Frauen zu tanzen, teilt. Das Interactive Fiction-Skelett liegt brach, kein großes Spektakel, lediglich reiner Text auf farblich angepasster Kulisse, hervorgehobene Worte, die sich mittels Maus— BLAM!

Beim ersten Knall zucke ich schlagartig zusammen, weil mir auch nach Dutzenden Spielen dieses Typus keines unterkam, das auf diese wohlvertraute und als harmlos geglaubte Geste, das bloße Berühren eines Links, reagierte. Ich fühle mich, als hätte sich tatsächlich ein Schuss gelöst, in einem Revolver in meiner Hand. Dieser Link, diese rot gefärbten und unschädlichen Buchstaben, haben mich verarscht. Christine Love hat mit meinen Erwartungen gespielt, mich betrogen, mir einen Schrecken eingejagt. Und es hat sich großartig angefühlt. Auch sie hat Twines Grundgerüst mit einfachen Mitteln um ungewöhnliche Funktionen erweitert und erzählt eine Geschichte, die sich nicht nur lesen, sondern erleben lässt. Ich werfe die Waffe von Hand zu Hand, ziele auf alles, was sich mir in den Weg stellt, zack, Treffer.

Werke wie Even Cowgirls Bleed befördern Interactive Fiction, die auch ich selbst anfänglich für stagnierend hielt, auf die nächste Stufe. Twine und seine Mutationen sind next level. Aus dem Lesen wird durch Experimentierfreude und etwas Code-Geschick ein Handeln und Fühlen, das den Spieler und das Gespielte miteinander verbindet und positiv überrascht. Es ist zu viel Literatur, um ein Spiel zu sein und zu viel Spiel, um Literatur zu sein. Und es ist genau diese seltsame Mischung, die nirgends so richtig hin passen will, die wir schätzen sollten. Wäre Twine eine Musikrichtung, dann wäre es dreckiger, lauter Punkrock mit selbstgemalten Covern und Plakaten, verstimmten Instrumenten und bunten Frisuren.

Jeder kann den Verstärker auf 11 drehen, drei Akkorde auf der Les Paul-Kopie schrammeln und seinem Publikum unter ohrenbetäubendem Lärm sämtliche Regeln der Musik aus dem Kopf blasen. Genau so kann jeder ein Spiel machen, das eine Geschichte erzählt, die noch nie erzählt wurde. Twine-Spiele sind unglaublich laut und seltsam. Und das tut unglaublich gut.

Dieser Beitrag hätte auch zwei Absätze lang sein und als bloßer Hinweis aufs Spiel funktionieren können, wurde aber spontan zum Loblied auf eines der meiner Meinung nach wichtigsten Game-Making-Tools unserer Zeit. Wer mehr über Twine erfahren will, sei auf Anna Anthropys Twine-Guide und die offizielle Dokumentation verwiesen.