Gangster’s Paradise: Die kulturelle Bedeutung von Grand Theft Auto
Da ist es wieder, das neue beste Videospiel aller Zeiten. Ein neuer Benchmark für das aufstrebende Medium ist entbunden worden, es war beileibe keine schwere Geburt. Grand Theft Auto V machte schon 800 Millionen Dollar Umsatz, bevor überhaupt die Nabelschnur durchtrennt wurde und markiert somit einen neuen Höhepunkt in einer mit Höhepunkten nicht geizenden Spielereihe. Und weil Menschen, die mit Videospielen sonst nichts am Hut haben, mit selbigen seit geraumer Zeit tatsächlich eher GTA als Super Mario assoziieren, gilt der Kriminalitätssandkasten sogar als kulturelles Gut — fast schon so wie Die Blechtrommel oder Kalle Pohl. Ganz unabhängig davon, ob man das nun gut findet oder fatal: Die Spielereihe ist ein fester Bestandteil westlicher Videospielkultur, weil sie virtuell dort weitermacht, wo das richtige Leben aufhört. Oder leider genau anders herum.
Die Frage nach kultureller Relevanz ist eine, die immer neu gestellt werden muss, da es nicht einmal in unserem überschaubaren Land eine einheitliche Kultur gibt. Nordfriesen finde ich jedenfalls sehr eigentümlich. Dennoch schafft es GTA immer wieder, sich durch alle Einkommens- und Bildungsschichten in die Haushalte zu kämpfen, als sei es das Normalste der Welt, einen massenmordenden Soziopathen zu verkörpern. In gewisser Weise ist es das vielleicht auch, wenn man einen Blick auf die Umwelt wirft, in der wir Abendländer unsere gezählten Tage verbringen. Von der Benutzung eines Autos bis hin zu den Nutzungsbedingungen einer gekauften CD — alles ist bis in den letzten Winkel durchreguliert und gesetzlich und gesellschaftlich beschränkt. Wir leben in einer Welt, die mehr Regeln und Vorschriften als Möglichkeiten und Freiheiten hat, auch wenn insbesondere das US-amerikanische Ideal gerne etwas anderes suggerieren möchte. Wenn man in New York nicht mal mehr die Größe seines Getränkes bestimmen darf, ist es doch mehr als verständlich, wenn eine Sehnsucht nach Deregulierung und Grenzüberschreitung entsteht, zwei absolute Kernelemente der GTA-Reihe. Ob man nun nach einem Scheißtag im Büro nach Hause kommt oder einen Handyvertrag nicht abschließen konnte, weil ein Blick in die SCHUFA-Einträge die Warnleuchten des Mobilfunkanbieters zum Glühen brachte — es ist immer dasselbe Gefühl der Fremdbestimmung und Gängelung, das regelmäßig und oftmals unbewusst in uns wohnt. Es ist ein Gefühl, das selbst die Kinder und Jugendlichen kennen, die GTA laut dem rot leuchtenden und Artwork verschandelnden USK-Logo gar nicht in die Finger bekommen dürften. Diese haben oft sogar noch eine viel schärfere Wahrnehmung von den Beschneidungen ihrer Selbstbestimmung, was sie, wenn auch aus bekannten Gründen nicht offiziell, zu einer Kernzielgruppe des GTA-Franchises macht.
“Ey, ich mach‘ jetzt keine Hausaufgaben, ich schlag‘ jetzt lieber diese Nutte hier, Digga! Mein Lehrer ist voll der Lauch! Schüüüüüsch!”
Okay, ich habe keine Ahnung, wie Jugendliche heute reden, ich beharre aber auf dem offensichtlichen Zusammenhang zwischen dem realweltlichen Konformismus und der Zügellosigkeit der GTA-Reihe. Einen großen Teil zum Erfolg der Serie trägt sicherlich auch das Setting bei, das sich am Leben in diversen amerikanischen Großstädten orientiert und eine wiedererkennbare Abbildung der wirklichen Welt bietet. Es schafft eine ganz eigene Stimmung, wenn man sich in einer zumindest latent bekannten Umgebung wiederfindet und plötzlich tun und lassen kann, was man will. Hierzulande kennen wir zwar größtenteils die realen Vorbilder von Los Santos oder Liberty City nicht persönlich, aber deren Architektur ist uns dank des omnipräsenten Einflusses Hollywoods dennoch bestens bekannt und wirkt deshalb nicht so fremd, wie beispielsweise das Hong Kong in Sleeping Dogs oder das 50er-Jahre-Setting von Mafia II. GTA bietet somit ein Ventil zur Grenzüberschreitung, das so wirksam ist, weil es sich nicht fiktiv anfühlt. Auch nicht real, nicht, dass wir uns hier missverstehen, aber eben auch nicht völlig an den Haaren herbeigezogen. Das Spiel ist deshalb zwar noch lange kein Holodeck für zivilen Ungehorsam oder gar eine Mordsimulation für potenzielle Amokläufer, es lässt uns jedoch Dinge ohne harsche Konsequenzen vollbringen, an die wir sonst nur in unseren dunkelsten Momenten zu denken wagen.
Wenn man in New York nur wegen seines „verdächtigen“ Aussehens angehalten und gefilzt wurde, dann sitzt in Liberty City der Abzug bei einem vorbeifahrenden Polizisten vielleicht schon mal lockerer. Das Spiel beinhaltet ein wiedererkennbares Feindbild und erlaubt eine Verschiebung des Machtgefüges, welche in der wirklichen Welt undenkbar ist. Das ist natürlich ein nicht zu verallgemeinernder Aspekt, da die sozialen und wirtschaftlichen Hintergründe der GTA-Spieler vielfältiger kaum ausfallen könnten, aber jeder Spieler findet sicher eine ganz persönliche Gesetzeswidrigkeit aus seiner Wirklichkeit, die er hier mit großer Freude virtuell begehen kann, weil ihm keine nennenswerte Strafe dafür droht. Und sei es nur das Überfahren einer roten Ampel oder das Konsumieren eines Joints. Nicht jeder strebt schließlich gleich nach dem höchsten Bodycount.
Diese große Stärke ist leider auch gleichzeitig die größte Schwäche von GTA. Es ist schön und gut, ein realitätsnahes Umfeld zu kreieren und dem Spieler alle denkbaren Freiheiten zu gewähren, ihn jedoch mit allem davon kommen zu lassen und die Mechanismen hinter dem ganzen Gangstertum nicht zu beleuchten, kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Generell versteckt sich GTA zu sehr unter dem Deckmantel der Satire und der Überhöhung, obgleich jegliches Infragestellen des Gezeigten fehlt. Alle sind irgendwie total auf dem Egotrip, leben im völligen Hedonismus in einer durchkapitalisierten Welt und die Satire soll darin bestehen, dass die Mechaniken der Spiele genau diese Denkweisen fördern? Wie delikat, Facebook heißt hier ‘Lifeinvader’, sehr glaubwürdig, wenn man gleichzeitig für die meisten Onlinefunktionen seiner Spiele einen Rockstar-Account voraussetzt.
Es täte der GTA-Reihe wirklich gut, wenn das Setting einmal nicht die kaputten Mechanismen des amerikanischen Imperialismus glorifizieren und die Probleme von Minderheiten und Frauen in dem Land marginalisieren würde, sondern stattdessen diese herausfordert, Konsequenzen aufzeigt und den ewig gleichen Gangsterklischees Lebewohl sagt. Es gibt längst interessantere Metropolen, die besser reflektieren können, wohin der American Way Of Life führen kann. Detroit, Baltimore, New Orleans — Städte, deren Verfall allgegenwärtig ist und die viel mehr über die amerikanische Kultur aussagen, als die repetitiven Vertreter New York oder Los Angeles. GTA ist ein Produkt, das aus den Werten entstanden ist, die es eigentlich persiflieren soll. Es hat deshalb keinen höheren kulturellen Wert als Lukas Podolskis erhobener Daumen. Letzten Endes wird aber auch diese Oberflächlichkeit und Kritiklosigkeit dazu beigetragen haben, dass diese Spielreihe eine solch immense Popularität erlangen konnte. Schließlich gehen ja auch 70.000 Menschen zu Mario Barth ins Olympiastadion und lachen.
“Meine Freundin, meine Freundin. ..Handtasche…Schuhe kaufen…och neee…ich so, Fußball…nääää…meine Freundin…kennt ihr das? Kennt ihr das auch?!”
Okay, ich habe keine Ahnung, wie Mario Barth heute redet, aber GTA ist für Videospiele das, was Mario Barth für die deutsche Comedy ist. Opium fürs Volk. Voller Klischees und ohne jeglichen Tiefgang. Es ist ein Spiel für Arschlöcher oder für Menschen, die gerne mal ein Arschloch wären. Praktisch ein Spiel für jedermann, schließlich haben wir alle so unsere Momente. Es ist dennoch schade,
dass Rockstar die Beliebtheit seines wichtigsten Zöglings nicht dafür benutzt, seinem Spiel tatsächlich einen Einblick in kapitalistische Subkulturen zu gewähren: Das kaputte Bildungs- und Gesundheitssystem, kontroverse Waffengesetze, ein durch Lobbyismus vergifteter Politikapparat, Rassen- und Religionskonflikte — es gäbe so viel, was in einem solch massiven Spiel Platz gehabt hätte, ohne dessen kommerzielle Ausrichtung zu gefährden. Es muss ja nicht gleich so bedrückend sein wie The Wire es einst war, aber wenn sich ein Spiel mit einer solchen Thematik komplett unpolitisch präsentiert, dann erweckt das den Eindruck, dass statt der Auseinandersetzung mit aufgegriffenen Missständen vielmehr deren kommerzielle Ausschlachtung das Ziel der ganzen Sache ist. Es ist somit Bestandteil einer fehlgeleiteten Medienkultur, nicht deren Mahner.
Zudem repräsentiert der neueste Teil perfekt die Mentalität großer Entwicklerstudios. Alles wird immer mehr und immer größer, aber an bestehenden Konventionen wird nicht gerüttelt. Es ist die selbe Mentalität, mit der auch Hollywood seit Jahrzehnten verfährt und dabei doch nie realisiert hat, dass es sich damit in Sachen kultureller Relevanz längst verfahren hat. Was auf der Strecke bleibt, ist eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Themen Kriminalität, Selbstgerechtigkeit und die Inklusion der anderen Hälfte der menschlichen Erdenbewohner. U know, the womenz. Ein Spiegelbild der amerikanischen Gesellschaft ist es so nicht ganz geworden, eher ein Abziehbild seiner selbst, für das dennoch Tausende ihren Jahresurlaub opfern. 800 Millionen Dollar allein am ersten Tag. 800 Millionen! Auch wenn GTA V nicht den satirischen Duft versprüht, den viele gerne darin riechen würden, so hinterlässt es am Ende wenigstens einen kräftigen Hauch Realsatire.