Hatoful Boyfriend: Die Vögel sind nicht, was sie scheinen

Hatoful Boyfriend

Als ich von Hatoful Boyfriend zum ersten Mal hörte, konnte ich mir bestenfalls vorstellen, dass ich auf einer ironischen Ebene Freude daran hätte. Eine Visual Novel-Dating-Simulation mit Vögeln; was sollte mir das schon – von ein paar Wortwitzen abgesehen – bieten können? Ich habe mich getäuscht. Hatoful Boyfriend bot mir eine der besten Spielerfahrungen in meinem gesamten Leben.

Hatoful Boyfriend

Achtung:
Dieser Text enthält diverse Spoiler. Sie sind nötig, um über die Wirkung von Hatoful Boyfriend adäquat reden zu können. Vor dem gravierendsten Spielerlebnis gibt es eine separate Spoiler-Warnung.

Dieser Meinung bin ich nicht etwa nur, weil Hatoful Boyfriend stellenweise rührselige Geschichten über die Liebe erzählt. Auch nicht einfach wegen den enthaltenen Meta-Aussagen zu Genrekonventionen. Hatoful Boyfriend schafft es immer wieder an genau den richtigen Stellen, mit den Erwartungen zu brechen, die das Spiel zu Beginn selbst aufbaut.

Hatoful Boyfriend

Schließlich findet sich im Spiel von Hato Moa – seines Zeichens Mangaka wie auch Spieleentwickler aus Osaka – anfangs eine reine Dating-Simulation. Die Spieler*Innen übernehmen in Hatoful Boyfriend die Rolle eines weiblichen Menschen in einer Akademie für begabte Tauben, genannt St. PigeoNation’s Institute. Im Rahmen des Schulalltags muss man unterschiedliche Entscheidungen treffen: An welcher außerschulischen Aktivität man teilnimmt, mit wem man gemeinsam Festivitäten besucht und auch welche Charaktereigenschaft man trainiert (Wissen, Vitalität oder künstlerisches Vermögen). Davon hängt ab, mit welchem der männlichen Vögel man am Ende zusammenkommt.

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Die Vögel werden zunächst scheinbar stereotyp dargestellt. Wie in jeder andere Dating-Simulation findet man den leicht dümmlichen Sportler (Okosan), den charismatischen Macho (Yuuya), den überheblichen Künstler (Sakuya), den intellektuellen Außenseiter (Nageki), einen Kindheitsfreund (Ryouta) sowie weitere Charaktere. Und ja, dadurch, dass diese Charaktere Tauben sind, wirkt alles noch eine Spur komischer sowie kurioser. Eine Art surrealer Humor stellt sich ein.

Hatoful BoyfriendSchließlich sind interspezifische Liebesbeziehungen für den Großteil der Spieler*Innen ein komplett unbekanntes Terrain. Doch das ist glücklicherweise gar kein Problem, da das Spiel so gut wie nie schamhafte Momente erzeugt. Sie werden im Vornherein durch den grandios überhöhten Witz des Spiels neutralisiert. Hierbei geht es nicht etwa nur um die kontextuelle Ebene – zum Beispiel Wortspiele wie everybirdie oder Anspielungen wie lovebirds – sondern auch um die formelle. Gerade als ich dachte, Hatoful Boyfriend wäre eine einfache Dating-Simulation, kamen weitere Möglichkeiten dazu, die zu neuen Varianten des Spielendes geführt haben. Erst dann wurde die Vielfalt der Visual Novel deutlich: Das genrestrukturelle Gefüge begann zu kollabieren.

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Es stellten sich nämlich spurenweise narrative Elemente einer Kriminal-Geschichte ein. Bei einem Entscheidungspfad beginnt Ryouta von den „sieben Mysterien“ der Schule zu reden, die aber als urbane Legenden abgestempelt werden. Eine davon spielt sich auf der Krankenstation der St. PigeoNation, die sich unter der Leitung des unheimlichen Dr. Shuu Iwamine befindet, ab. Hier sollen Schüler*Innen spurlos verschwinden und als Gebrauchswaren sowie Lebensmittel wieder erscheinen – Soylent Green lässt freundlich grüßen.

Dass diese Anschuldigungen aber mehr als nur einen Funken Wahrheit in sich tragen, verdeutlicht das Yuuya-Ende. Zu diesem Zeitpunkt wird nicht die wahre Motivation hinter der bestialischen Entsorgungsaktion offenbart. Jeder neue Spielverlauf – und jede Genre-Parodie – entblößt immer nur eine Perspektive der großen Gesamtgeschichte.

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So verwundert es auch nicht, dass Dr. Iwamine auch in dem erst später freischaltbaren Anghel-Verlauf die Position des überbösartigen Antagonisten einnimmt. In JRPG-artiger Manier wird Anghel als eine Art edler Ritter mit fast schon religiös anmutender Haltung etabliert, der gegen die dunklen Mächte der Schule antreten will. Es geht für ihn nicht weniger als um die Rettung der Welt, denn das Böse will mittels “Dämonensporen” die Apokalypse herbeirufen.

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Hatoful BoyfriendAuch, wenn alles zunächst als reine Parodie auf Genrekonventionen sowie äußerst seichte Unterhaltung interpretierbar ist, zeigt Hatoful Boyfriend damit seine große Stärke: Alles ist abgerundet und, wenn auch im regulären Spielverlauf zunächst lose, miteinander verknüpft. In der Anghel-Geschichte werden die sonst nur mäßig nützlichen Eigenschaftspunkte plötzlich zu Statuspunkten, die die Stärke der Angriffe auf den Endboss mitbeeinflussen. Was zunächst nur ein halbgarer Gag in Form einer Spielemechanik zu sein scheint, erhält plötzlich eine direkte Funktion.

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Selbiges gilt für alle regulär erreichbaren Spielenden. Erst durch die Kombination aller Enden erhalten sie eine gewisse Tiefe. Einzeln betrachtet sind sie mehr oder weniger romantische Kurzgeschichten, die sich immer nur auf eine Person stützen. Nur, wenn Spieler*Innen die Neugierde aufbringen, sich voll in Hatoful Boyfriend hineinzustürzen, wird die Bedeutung aller Charaktere klar.

Hatoful BoyfriendMit jedem neuen erfolgreichen Spieldurchlauf erfährt man mehr und mehr von ihnen, aber ebenso lernt man auch mehr über Beziehungen als solche – auch über ihre Schattenseiten. Möchte man sich beispielsweise auf eine Romanze mit Dr. Iwamine einlassen, so manifestiert sich in ihm eine krankhafte Obsession. Eigentlich kann er mit seiner distanzierten Art nur Liebe für die Wissenschaft aufbringen, doch man wird im wortwörtlichen Sinne selbst zum (Forschungs-)Objekt seiner Begierde. Nachdem man seine finsteren Machenschaften entdeckt, tötet er die Spielfigur, trennt ihr den Kopf ab und konserviert diesen in einem Glasgefäß. Auf die Schlussfrage „You loved me, did you not?“ gibt es drei mögliche Antworten.

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Hatoful BoyfriendAuf diese leicht skurrile Art verhandelt Hatoful Boyfriend das Hauptproblem seines eigenen Genres, der Dating-Simulation: Die Einseitigkeit der dargestellten Beziehungen. Es lässt sich regelrecht auf Beziehungen hin-arbeiten, nichts entwickelt sich organisch. Das ist ein legitimer Grund, um Dating-Simulationen als Genre zu verabscheuen, zu hassen, sich über sie lustig zu machen. Doch Hatoful Boyfriend thematisiert genau das durch eine mal subtile, mal sehr direkte Meta-Ebene. Das rechne ich dem Spiel hoch an. Genau daraus speist sich bei mir das Gefühl, dass mir hier eine der besten Spieleerfahrungen in meinem gesamten Leben geboten wurde.

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…Allerdings spreche ich hier nur von 14 der 16 Endverläufen, die man regulär erreichen kann. Erst die verbleibenden zwei offenbaren, wie durchgeplant jedes einzelne Detail der Erzählung ist. Daher, jetzt nochmal die Warnung vom Beginn: Spoiler Spoiler Spoiler! Es folgt ein Umriss des “geheimen” Hintergrund-Plots.

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Sobald man die Enden von Ryouta, Yuuya, Sakuya, Nageki sowie des Mathematik-Lehrers Nanaki Kazuaki erreicht hat, erscheint zu Beginn eines neuen Durchlaufs folgender Auswahl-Bildschirm:

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Wenn man sich dafür entscheidet, ein altes Versprechen einzulösen, wird die Hurtful Boyfriend-Route eingeläutet. Erst durch sie werden selbst Banalitäten und kleinste Gesprächsfetzen zu einem großen Ganzen zusammengefügt. Man könnte sagen, dass der Hurtful Boyfriend-Verlauf den interreferenziellen Gesamtrahmen von Hatoful Boyfriend darstellt. Diese Leistung ist aus meiner Perspektive ein kleines Meisterwerk im Visual-Novel-Genre. Geschätzte zwei Stunden lang saß ich gebannt vor dem Bildschirm und sah zu, wie alles, absolut alles, einen verstörenden Sinn ergab. Vor meinen Augen dekonstruierte Hatoful Boyfriend seine eigene Ausgangssituation.

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Es war nie eine Dating-Simulation in einer bizarren, aber stets heilen Welt, wo ein Menschenmädchen mit männlichen Vögeln Romanzen beginnt. In Wirklichkeit spielt sich alles in einer postapokalyptischen Dystopie ab: Die Vogelgrippe war derartig tödlich, dass die Menschen versuchten die Überträger-Tiere mit einem Konter-Virus auszurotten. Der Versuch schlug fehl – die Vögel mutierten zu intelligenten Lebewesen und führten fortan einen jahrzehntelangen Krieg gegen die Menschheit. Ein Universum voller Tod und Hass.

Hatoful BoyfriendZwar kam irgendwann ein Friedensabkommen zwischen Menschen und Vögeln, doch das Misstrauen blieb. Die Protagonistin von Hatoful Boyfriend ist ein Kind dieses Zeitalters. Sie sollte an der St. PigeoNation als eine Art Vermittlerin fungieren, ein Symbol der Hoffnung. Doch dann wird sie nach nur wenigen Tagen ohne Vorankündigung getötet und ihre Körperteile in kleinen Boxen in der gesamten Schule verteilt. Ryouta, der Jugendfreund der Spieleheldin, sieht sich daher verpflichtet, den bizarren Mord aufzuklären. Es entspinnt sich eine detailverliebte, surreale Geschichte, die Beziehungen in einem viel größeren Rahmen thematisiert, als es eine normale Dating-Simulation je vermocht hätte.

Hatoful Boyfriend

Hatoful BoyfriendDabei geht es um alles: Wie Familienbande durch Geschwisterliebe zerstört werden. Wie in Vergangenheit abgegebene Versprechen zu geißelnden Schatten des Selbsts werden. Wie man sich selbst für Dinge verantwortlich macht, die man nie hätte kontrollieren können. Wie es die Seele zerfressen kann, wenn man über Jahrzehnte hinweg nach Absolution bettelt. Wie Obsessionen Personen wandeln können. Mich hat die gesamte Geschichte unglaublich gefesselt. Hato Moa hat sich als Meister der Verbindung zwischen Narration und Spiel herausgestellt. Mit dem Tod der Protagonistin hat er eine unglaublich simple, aber wirkungsmächtige Meta-Aussage eingebaut: Sie musste sterben, damit die gesamte Geschichte erzählt werden kann — genauso wie das Spiel sich von seinen Genrekonventionen befreien musste, um eine Wirkung außerhalb der humoristischen Ebene zu entfalten. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Liebe und Beziehungen ist in digitalen Spielen nicht durch vorgefertigte Entscheidungspfade möglich; durch eine fantastische Erzählung, die Spielemechaniken perfekt zu nutzen weiß, hingegen schon. Das hat Hatoful Boyfriend für mich geschafft.