Never Alone: Geschichte erzählen

Die Iñupiaq sind die Ureinwohner Alaskas. Iñupiaq ist auch der Name ihrer Sprache. Vermutlich habt ihr genau so wie ich noch nie von diesem Volk und ebenso noch nie ihre Sprache gehört. Und dann kommt ein Videospiel daher, das mehr Wissen über beides vermittelt, als der Eintrag in der deutschen WikipediaNever Alone ist ebenso ein Spiel über das Geschichten erzählen, wie es ein Spiel ist, das Geschichte vermitteln möchte. Das Kofferwort aus “Edutainment” beschreibt einen Löffel Zucker für die bittere Medizin — ein schrecklicher Begriff und ein gänzlich unpassender für Never Alone. Denn auch wenn das Anliegen, einer kleinen Volksgruppe Sichtbarkeit zu geben, sich durch das ganze Konzept zieht, ist Never Alone in erster Linie dennoch ein Spiel, das denen die es konsumieren nichts bei-, sondern etwas näher bringen möchte.

Das Mädchen Nuna macht sich gemeinsam mit einem Polarfuchs auf den Weg, ihr Dorf zu retten, das wegen andauernder Schneestürme nicht mehr in der Lage ist, auf die Jagd zu gehen und deshalb zu verhungern droht. Ihre Geschichte wird als alte Fabel in der Sprache der Inupiat mit Untertiteln erzählt. Viele Aspekte der Kultur werden direkt aufgegriffen, wie die Seele der Natur oder die Wurfwaffe Bola, und auch die Figuren, denen Nuna begegnet, stammen aus der Folklore Alaskas. In jedem Level lassen sich Videos freischalten, die diese kulturellen Hintergründe erläutern. Und auch die Spielmechanik selbst erzählt etwas. Die Hintergründe sind unscharf, wie verschwommene Erinnerungen oder die Teile, die nicht im Detail erzählt werden und ab und zu kommt der Wind selbst Nuna zur Hilfe. Die Figuren springen und klettern durch die arktische Landschaft, müssen manchmal Kisten oder Plattformen verschieben, aber spielerisch gibt es auf den ersten Blick wenig Neues zu entdecken.

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Einige Passagen sind dennoch erstaunlich knifflig. Ich starb oft, manche Abschnitte wiederholte ich ein Dutzend Mal. Irgendwann bemerkte ich, dass es nicht unbedingt an meinen motorischen Fähigkeiten lag, sondern daran, dass ich Never Alone alleine spielte. Anders als im Kooperativen Modus musste ich immer wieder zwischen den beiden Figuren wechseln, um weiterzukommen. Wirklich klar wurde mir das bei der Vorbereitung dieses Textes: Jedes Mal, wenn ich einen Screenshot anlegte, wechselte das Spiel in den Koop-Modus – beide Funktionen teilen sich die selbe Taste – und die zweite Spielfigur blieb einfach stehen. Oder anders gesagt: Immer wenn ich versuchte, Eindrücke aus dem Spiel mit anderen zu teilen, wurde ich daran erinnert, dass dazu mindestens zwei Personen gehören.

Laut dem Erzähler hat Nuna nie jemandem vom Polarfuchs erzählt, der sie begleitet und in einem der Videos heißt es, dass die Geschichten der Inupiat immer von Einzelnen handeln, die alleine die Gemeinschaft retten. Dem widerspricht das Spiel: Die Gemeinschaft wird gerettet, aber eine Person alleine kann das kaum schaffen. Es geht um das Weitererzählen und das Archivieren. Es geht darum, nicht vergessen zu werden und das geht nur gemeinsam. Die Art, wie Never Alone seine einzelnen Teile um ein gemeinsames Thema verbindet, funktioniert überraschend gut. Die Geschichte von Nuna selbst schafft es weniger, mich emotional mitzunehmen, weckt aber Neugierde über diese Welt, die den meisten fremd sein dürfte. Das liegt vor allem daran, dass Never Alone kein Spiel über die Inupiat, sondern eines von ihnen ist. Künstler*innen und Geschichtenerzähler*innen aus Alaska waren von Anfang an in die Produktion involviert und so ist kein touristischer Blick von außen entstanden, sondern eine Übersetzung der alten Geschichten in ein neues Medium. Dass dieses Medium ausgerechnet ein Videospiel ist, bedeutet mehr als ein Begriff wie “Edutainment” vermitteln könnte.