Was früher schon gut war, muss heute nicht schlecht sein.
Obduction schlägt die Brücke zwischen Vertrautem und Unbekanntem.
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Zu Kindheitserinnerungen zurückzukehren ist oft eine Enttäuschung. So wie die Rutsche auf dem Spielplatz auf einmal nicht mehr bis in den Himmel ragt, wirken die durchlebten, virtuellen Abenteuer auf einmal klein und belanglos. Manchmal ist aber das Gegenteil der Fall und die Erinnerung gewinnt mit erneuter Betrachtung sogar noch an Größe hinzu.
So begann mein erster Artikel für Superlevel. Das war vor zwei Jahren, im Oktober 2014 und es ging um Riven, das erste Videospiel, das ich jemals spielte. An diese Rückkehr nach Riven, die ich für den “Blast from the Past” wagte, musste ich oft denken, als ich die fast zwanzig Jahre später erschienene Fortsetzung Obduction spielte.
Obduction ist, so beschrieb es schon die Kickstarter-Kampagne vor drei Jahren, ein Blick in die Vergangenheit. Das neueste Spiel von Cyan sollte auf den ältesten Spielen von Cyan basieren und den Geist von Myst und Riven beschwören. Es ist damit auch ein Blick auf die Geschichte der Gebrüder Miller selbst, die sich nie von ihrer 1993 erschaffenen Welt lösen konnten. Nach mehreren Fortsetzungen schwankender Qualität und einem Online-Adventure, das über seine eigenen, übergroßen Ambitionen stolperte, klang die Einleitung der Kampagne wie die Ankündigung eines von Nostalgie getriebenen Wiederbelebungsversuches.
Dabei lebt der Geist von Myst bis heute in anderen Spielen fort. Es steckt in Gone Home, SOMA, The Talos Principle, Everbody’s Gone To The Rapture. Jonathan Blow widmete sieben Jahre seines Lebens dem Puzzlespiel The Witness, dessen Insel der von Myst in vielerlei Hinsicht verdächtig gleicht. Und auch sonst wurde das Original am Leben gehalten, sei es mit einer Variante für iPhones, dem Remake realMyst oder der realMyst Masterpiece Edition. Ja, selbst der Re-Release des Remakes wird noch zum Meisterwerk erhoben. Eigentlich sollte Obduction passend zum Jubiläum von Myst erscheinen, nun fällt es zwischen dieses und das Jubiläum der Fortsetzung Riven. Ein sehr viel passenderer Termin, hat es doch viel mehr mit dem zwar ebenfalls erfolgreichen, aber etwas in Vergessenheit geratenen und erzählerisch dichteren “Sequel to Myst” gemein.
Es fühlt sich wie eine Rückkehr an, nach wenigen Minuten den ersten Hebel in Obduction umzulegen. Das Gefühl, den rostigen Metallstab mit der Maus zur Seite zu schieben; die Geschwindigkeit, mit der er sich bewegt; das befriedigende Geräusch, wenn er endlich einrastet; die gespannte Erwartung, wie der verbundene Mechanismus reagieren wird. Alles ist warm und vertraut, trotz der Fremdheit dieser pastellfarbenen Welt. Alles ist, wie in meiner Erinnerung: das Quietschen der Hebel, das Quaken der Frösche, das Surren der retrofuturistischen Elektronik…
Jetzt sitze ich wieder spätabends zwischen Zetteln und Notizen vor dem Monitor. Statt Cola gibt es nun Wein. Ich versuche erneut, ein Zahlensystem zu erlernen, eine Kultur zu verstehen und ein Geschichtsbuch zu schreiben. Und noch immer bekomme ich eine Gänsehaut.
Der Sprung von den vorgegebenen Blickwinkeln der ersten paar Spiele in eine frei begehbare, dreidimensionale Welt ist Cyan – nachdem besagter Multiplayer-Titel Uru noch stolperte – endlich gelungen. Die Welt von Obduction ist meisterhaft konstruiert. Das Leveldesign ist ein Lehrstück unsichtbarer Führung, ohne überdeutliche Questmarkierungen und Minimaps jemals nötig zu haben. Jede Umgebung identifiziert sich ausreichend selbst, durch ihren Farb- und Klangraum, sodass sich die Wege schnell von selbst finden.
Und trotzdem erzeugt Cyan wieder das paradoxe Gefühl, dass ich ein verlorener Wanderer bin. Obduction spielt mit der neu gewonnenen Freiheit über die Kamera. Oft lande ich in vermeintlichen Sackgassen, nur um mich umzudrehen und etwas völlig Neues zu entdecken. Ein roter Lichtstrahl in der Ferne, der mich wie eine Motte anlockt oder eine gigantische, in den Fels gemeißelte, sich schier endlos emporstreckende Treppe, die zuvor völlig unsichtbar war – nur weil ich die Wand aus der falschen Perspektive betrachtet habe. Es führt meinen in tausend Shootern trainierten Tunnelblick vor, indem es wichtige Details in Winkeln versteckt. Diese Welt wirkt nicht nur wegen ihrer Farben und Formen so fremd, sondern auch, weil sie die bequemen Konventionen des Leveldesigns verdreht.
Obduction spielt auch inhaltlich mit dem Perspektivwechsel. Es präsentiert wie schon in Myst und Riven eine verlassene Welt, deren Geschichte ich mir selbst erschließen muss, in dem ich die Welt selbst betrachte. Und wieder sind es verschiedene Kulturen, die miteinander in Konflikt stehen. Diesmal sind es sogar tatsächliche Welten, die miteinander kollidierten. Fragmente verschiedener Planeten und Zeiten wurden durch rätselhafte Ereignisse ineinander verzahnt und mussten lernen, sich mit dem neuen Status Quo zu arrangieren.
Wer sich nicht in die verschiedenen Protagonist_innen hineinzuversetzen vermag, wird sich in Obduction verirren. Wer nicht in der Lage ist, sich auf Unbekanntes einzulassen, wer keine Empathie für die bruchstückhaft auftauchenden Figuren empfinden kann und wem – auch das ist noch immer ein Teil von Cyans DNA – die Geduld fehlt, zu erkunden, für den wird Obduction ein ungelöstes Rätsel bleiben.
Trotz all der Ähnlichkeiten zu Myst und Riven – formal wie emotional – ist Obduction etwas neues, eigenes und ein Spiel, das etwas zu sagen hat. Das, was es zu sagen hat, wird es in 20 Jahren noch zu sagen haben. Allerdings wird es wohl nie ein Massenpublikum begeistern können, wie Myst es 1993 konnte. Vermutlich würde selbst Myst heute kein Massenpublikum mehr begeistern können. Die Zeiten ändern sich und diese kontinentale Verschiebung ist ein Gedanke, der das Fundament für Cyans neues Spiel legt.
Riven war das erste Spiel, das ich jemals spielte. Obduction wird nicht das letzte sein, aber es ist inzwischen nur noch eines von mittlerweile hunderten in meiner digitalen Bibliothek. Zwei Monate später kann ich nicht aufhören darüber nachzudenken. Beide begleiten mich länger als die kurze Aufmerksamkeitsspanne des neuen Blockbusters, beide Spiele sind zeitlos. Und auch wenn die Auflösung gestiegen ist, der Sinn für das Wunder des Unbekannten ist noch der gleiche wie vor 20 Jahren.
Cyans Art zu Erzählen ist noch immer subtiler, nuancierter und reifer als die anderer Spiele. Obduction schlägt eine Brücke zwischen dem Alten und Neuen, zwischen Vertrautem und Unbekanntem. Das Happy End ist keine Rückkehr, sondern die Entstehung einer neuen Heimat; eines großen Ganzen aus unterschiedlichen Fragmenten. Obduction ist kein neues Myst, sondern im Jahr 2016 eines von unzähligen Häusern, das auf dem Fundament von damals gebaut ist.