Random Encounters: Dating Lessons
„Charm every woman and get her desperate to be with you”, so lautet das Verspechen von Dating Lessons, einer VR-App der russischen Firma Cerevrum Inc. Offiziell heißt es, dass die Lern-App dazu gedacht sei, schüchternen, heterosexuellen Männern zu neuem Selbstbewusstsein und bisher ungekannten Erfolgen beim Dating zu verhelfen. Nach der Veröffentlichung allerdings kam wiederholt Kritik auf, weil die Software durch ihre Darstellung des Annäherungsprozesses angeblich manipulatives und übergriffiges Verhalten gegenüber Frauen befürworte. Doch was trifft nun zu?
Kaum ist die Cardboard-Brille aufgesetzt und die App gestartet, finde ich mich in einem 3D-modellierten Strandhaus mit moderner Studioeinrichtung wieder. Mittendrin schwebt ein Menü, aus dem ich frei wählen kann, welche meiner elf Schwachstellen ich als erstes angehen möchte: Die Auswahl rangiert dabei von „Augenkontakt“ über „Berührungen“ bis hin zu „Körpersprache“ und scheint damit überwiegend klassische Verhaltensempfehlungen abzudecken.
Dieser erste bodenständige Eindruck allerdings wird schnell zerstreut: Noch nicht wirklich vertraut mit der Steuerung mittels Kopfbewegungen, wähle ich als erstes versehentlich das für Fortgeschrittene gedachte Kapitel „Selbstironischer Humor“ aus und werde prompt von meinem Coach „Magic Leone“ begrüßt, der bei Dates gerne anfangs vorgibt, Terrorist zu sein, weil er wegen seiner dunklen Haut ohnehin ständig für einen potenziellen Selbstmordattentäter gehalten wird.
Moment… was? Macht man Witze über sich selbst, so Leone, wirkt man sympathisch und selbstbewusst. Je nachdem, woher man stammt und über welche Attribute man verfügt, kann man aus einem großen Humorrepertoire schöpfen, das gerne auch mal ein bisschen rassistisch sein darf – „aber natürlich nur, wenn Du das möchtest“. Gleich danach werde ich darum gebeten, mein neu gewonnenes Wissen an einer herbeigezauberten virtuellen Partnerin mit langem, blondem Haar und schüchternem Lächeln auszutesten.
Während ich rede, erfasst das Mikrofon des Smartphones die Töne und gibt anschließend eine Rückmeldung aus. Da das Programm keine inhaltliche Bewertung vornimmt und anscheinend nur die Lautstärke der Stimmeingabe beurteilt, erhalte ich für mein leidenschaftliches „Blablablabla Blablabla Bla“ eine satte 93%-Wertung. Selbst ein leicht verärgertes „Ich werd’ jetzt ganz sicher keine rassistischen Witze machen“ wird mit 82% und einem charmanten Lachen meiner Partnerin in spe belohnt. Ein voller Erfolg!
Nach diesem etwas abrupten Einstieg beginne ich endlich mit der eigentlichen ersten Lektion und werde von Magic darum gebeten, mir mindestens eines und maximal drei der Ziele auszusuchen, die nun vor meinen Augen auftauchen. Diese Ziele sollen dazu motivieren, alle Verhaltensempfehlungen zu verinnerlichen und gewissenhaft zu üben. Nach kurzer Überlegung entscheide ich mich für die durchweg konfliktfreie Konstellation „Locke eine besondere Frau an“, „Date mehrere Frauen“ und „Hol’ Dir Deine Ex-Freundin zurück“.
Hochmotiviert mache ich mich gleich darauf an die übrigen Lektionen, in denen Magic erklärt, wie man sich Frauen am besten annähert, dass man sich mental auf Flirts vorbereiten muss und nach Möglichkeit immer lächeln sollte, um freundlich zu wirken. Auf der theoretischen Ebene behandelt Dating Lessons also im Wesentlichen die Grundregeln gesellschaftlichen Miteinanders. Dass ich etwa klar und deutlich sprechen sollte, wenn ich gehört werden möchte, könnte selbstverständlicher kaum sein. Eine seltsame inhaltliche Wendung nimmt die App aber, sobald sie von der Selbstoptimierung und den sozialen Konventionen zu dezidierten Flirttipps übergeht.
“[Women] will comply to everything that comes from you if you use the right tonality”, erklärt mir Magic während der Sprachlektion, und führt später noch einmal ausführlicher aus: „What you do is you make woman behave a certain way, by influencing her thoughts and emotions, so that she will comply to [your] requests“. Wenig verwunderlich ist, dass Leone in seinen Unterrichtseinheiten Kommunikation dementsprechend nicht als Möglichkeit interpretiert, einen anderen Menschen besser kennenzulernen und Gemeinsamkeiten zu entdecken. Stattdessen geht es darum, sich in ein möglichst positives Licht zu rücken und Fragen an das Gegenüber nur zu stellen, um die gelieferten Informationen zum eigenen Vorteil nutzen zu können. Oder, um es mit den Worten des Coaches zu sagen: “If I’m asking something, I have to use it to my advantage to create attraction – otherwise I’m wasting my time.”
Hinzu kommt eine konstant heruntergebetete Erfolgsgarantie, die auf bloßen Behauptungen beruht. Immer wieder wirft Leone willkürliche Zahlen in den VR-Raum, die mich davon überzeugen sollen, dass das sorgfältig zusammengestellte Lernprogramm dem Künstlernamen seines Schöpfers gerecht wird. „The woman will be 100% attracted to you“, heißt es da, und dass „99,999% der Frauen“ ein simples „hey“ oder „hi“ für den besten Gesprächsbeginn der Welt halten.
Problematisch ist all das aus zweierlei Gründen: Erstens dürften so einige Männer arg enttäuscht werden, wenn sie ihr mühsam erlerntes Wissen auf echte Frauen mit individuellen Vorlieben anwenden anstatt auf eine stets flirtwillige virtuelle Partnerin. Wozu das führen kann, zeigen Beiträge in Männerrechtsforen, in denen die Zurückgewiesenen nicht die Schuld bei den zu hochtrabend vermarkteten „Pick-Up Artistry“-Lektionen, sondern bei den Menschen suchen, von denen sie abgeblitzt sind. Ablehnung wird hier nicht als logische Konsequenz mangelnder Kompatibilität wahrgenommen; stattdessen wird sie zu wählerischen, zu selbstbewussten oder geradeheraus niederträchtiger Frauen angelastet.
Zweitens degradieren solche Programme Personen weiblichen Geschlechts zu bloßen „Zielen“ – ein Begriff, der auch in der App gebraucht wird – und schüren die Erwartung, dass sie als solche jederzeit verfügbar sein müssen. “There is NO woman on this world that you cannot approach, there is no inopportune time”, erklärt Magic Leone, und führt weiter aus: “I don’t care if this woman gets mad two minutes from now, you can still approach her, there is no woman who is unapproachable.” Ganz egal, ob sie ein geschäftliches Gespräch führt, lernt oder einfach ihre Ruhe haben möchte: Pflicht der Frau ist es immer auch, für den Egoaufbau eines Mannes zur Verfügung zu stehen. Der entscheidet dann lediglich anhand der mutmaßlichen Erfolgschance, ob er den Schritt wagen möchte, oder nicht.
Diese Dehumanisierung der Partnerinnen und die geradezu mechanische Darstellung von Flirtprozessen lässt die während der Ladezeiten eingestreuten, tiefschürfenden Zitate umso deplatzierter wirken. „Love is composed of a single soul inhabiting two bodies“, so heißt es da mit den Worten des Philosophen Aristoteles, und im Kontext der App erscheinen sie als ebenso leere Phrase wie das zuvor gemachte Kompliment an die willenlose Partnerin.
Um den Aufbau von Intimität, ganz gleich ob im Rahmen eines One-Night-Stands oder einer längerfristigen Affäre, geht es in den Dating Lessons nirgends. Ziel ist es stattdessen, möglichst viele „Ziele“ zu treffen, Punkte zu sammeln, Striche auf einer Liste zu vermerken. Manish “Magic” Leone selbst gibt denn passenderweise an, mit „mehr als 400 Frauen“ geschlafen und mittlerweile die Frau seiner Träume geheiratet zu haben. Ebenso wie aus der Tatsache, dass er trotzdem weiter Frauen nachstellt, macht er auch keinen Hehl daraus, wie er seinen Weg in die „Pick-Up Artist“-Szene gefunden hat: Nachdem er herausfinden musste, dass seine langjährige Verlobte ihn betrogen hatte und er sich umzubringen versuchte, migrierte der gebürtige Inder in die USA, um dort ein neues Leben zu beginnen.
Unter diesem Licht besehen wirkt sein vehementes Pochen auf hundertprozentige Erfolgschancen und der Wunsch, sich Frauen gefügig zu machen, auf eine andere Weise deprimierend. Es offenbart sich hier ein verletztes Ego, das unbedingt gepflegt werden muss und keine Misserfolge zulässt. Offensichtlich ist auch „Magic“ Leone nur ein Mensch, der in seinem Leben ein ums andere Mal gescheitert ist und sich nach Nähe sehnt. So wie die meisten von uns – egal, ob Mann oder Frau. Es gibt viele Möglichkeiten, mit solchen Schicksals- und Fehlschlägen umzugehen, allen voran das Bemühen, persönliche Stärken zu erkennen und zu fördern, um ein glücklicherer, offenerer Mensch zu werden. Dating Lessons hätte diesen Weg einschlagen und hilfreiche Tipps geben können, um eine solche Entwicklung zu erleichtern.
Stattdessen verschenkt die App ihr Potential leider an falsche Versprechen und Empfehlungen, die das menschliche Miteinander überwiegend erschweren anstatt erleichtern dürften.