This War of Mine: Der Krieg kennt kein Happy End
Auf Wikipedia gibt es eine Liste der anhaltenden Kriege und Konflikte, in der alle kriegerischen Auseinandersetzungen verzeichnet sein sollen, die bis heute andauern. Die Liste ist lang und reicht bis ins Jahr 1948 zurück. Davor und dazwischen tobten unzählige andere Kriege, die irgendwann beendet wurden. Im Grunde herrscht seit Anbeginn der Geschichtsschreibung immer irgendwo Krieg – aber nie war es so einfach wie heute, sich darüber zu informieren, was er mit den Menschen und der Gesellschaft macht. Und doch ist es ausgerechnet ein Spiel, das mich daran erinnert, dass Wissen und Verstehen zwei ganz unterschiedliche Dinge sein können. In This War of Mine ist der Krieg für einige Stunden tatsächlich auch mein Krieg.
This War of Mine ist ein Anti-Kriegsspiel, das jenseits von Schlachtfeldern und Schützengräben verortet ist. Es will zeigen, was Krieg für die Zivilbevölkerung bedeutet, wie er Normalität und Alltag gewaltsam auflöst und dem menschlichen Zusammenleben die Menschlichkeit raubt. Dazu lässt es mich eine kleine Gruppe von Menschen steuern, die in einem ausgebombten Haus mitten in einer belagerten Stadt Zuflucht gefunden hat. Das Haus ist nicht mehr als ein Notquartier. Durch riesige Löcher in der Wand und der Decke dringt die Witterung erbarmungslos in alle Räume, das Mobiliar ist spärlich und der Kühlschrank leer. Die Infrastruktur der Stadt ist fast vollständig zusammengebrochen, die Versorgung mit Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs beschränkt sich auf Tauschgeschäfte oder Plünderungen. Das Haus zu verlassen ist nur nachts möglich und selbst dann riskant: Überall lauern Soldaten, Milizen, Scharfschützen, andere Plünderer – oder einfach Menschen, die ebenso überleben wollen und dafür im Zweifel bis zum Äußersten gehen. Der Überlebenskampf ist Alltag geworden. Meine zufällig zusammengewürfelte Notgemeinschaft, die zu Beginn aus drei Männern besteht, muss sich diesem Kampf stellen, eine Alternative gibt es nicht. Ihre ständigen Begleiter heißen Einsamkeit, Hunger, Angst, Kälte, Krankheit und Tod.
Tag 5. Marko hat gestern Nacht eine Menge Holz und anderes Baumaterial in einem leer stehenden Haus gefunden. Ich lasse ihn einen Stuhl und ein Bett daraus bauen. Besonders Roman, der etwas kränkelt, ist froh, dass er nun nicht mehr auf dem Boden schlafen muss.
This War of Mine ist eine klassische Survival-Simulation: Ich lasse die Protagonisten Möbel und Waffen aus Schrott und Altholz bauen, Mahlzeiten kochen oder nachts in der Nachbarschaft nach Vorräten suchen. Ich muss mich um ihre Gesundheit und um ihr seelisches Wohl kümmern, denn ähnlich wie etwa bei den Sims hat es Konsequenzen, wenn ich grundlegende Bedürfnisse der Charaktere zu lange vernachlässige. Doch hier geht es längst nicht mehr ums Spaß haben oder um soziale Kontakte, um die Karriere oder gar um Geld: Die Zivilisten in der belagerten Stadt sind froh über einen improvisierten Herd oder eine Dosenmahlzeit, über ein aus Brettern zusammengenageltes Bett und ein, zwei Stühle. Luxus ist es schon, gelegentlich die Nerven mit einer Zigarette beruhigen zu können oder ein Buch zu besitzen, das nicht aus Mangel an Alternativen im Ofen verfeuert werden muss.
16. Nacht. Arica wurde gestern verletzt. Angeblich bietet das Krankenhaus noch eine medizinische Notversorgung. Unter Schmerzen schleppt sie sich in das stark beschädigte Hospital. Doch die einzige Ärztin, die noch da ist, kann ihr nicht helfen. Sie hätten Menschen hier, denen es schlechter ginge, und die Ressourcen seien knapp. Ich sehe ihr an, wie schwer es ihr fällt, sie wegzuschicken.
Natürlich ist This War of Mine nicht das erste Anti-Kriegsspiel. Der Third-Person-Shooter Spec Ops: The Line etwa sollte genre-untypisch die Grausamkeit des Krieges erlebbar machen und die Spieler dazu bringen, ihr Verhalten zu hinterfragen. Und pünktlich zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs zeichnete das Adventure Valiant Hearts: The Great War eine emotional bewegende Geschichte rund um diesen Krieg, die ebenfalls eine deutliche Anti-Kriegs-Botschaft kommunizierte. Doch This War of Mine ist etwas Besonderes, weil es so kompromisslos seiner Botschaft verpflichtet ist. Es verzichtet auf alles, was als Zugeständnis an das Spielerlebnis gewertet werden könnte: Es gibt keinen Humor inmitten der Katastrophe. Keine Minispiele, die vom tristen Spielalltag ablenken könnten. Keine aufwändige Geschichte, die sich wie ein roter Faden durch das Spiel zieht. Es gibt nur ein paar Menschen mit ganz gewöhnlichen Biografien. Menschen, die der Krieg zusammen- und aus der Bahn geworfen hat und die Tag für Tag darum kämpfen, nicht zu verhungern, zu erfrieren, erschossen zu werden oder den Verstand zu verlieren. Empathie erzeugt This War of Mine nicht durch ein gutes Skript, sondern durch das direkte Teilhaben am Überlebenskampf. Ich erlebe mit, wie es sich anfühlt, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren und keinerlei Perspektive zu haben. Dagegen ist Papers, Please ein Feuerwerk der guten Laune.
Tag 29. Das Hungern geht nun schon zu lange. Es ist Tage her, dass die Bewohner etwas zu essen hatten. Drei von ihnen sind krank, zwei verletzt. Bandagen und Medizin sind schon lange keine mehr da. Depressionen plagen die ganze Gruppe. Roman rafft sich dennoch auf, heute nacht in einer zerbombten Kirche nach Material und Lebensmitteln zu suchen. Aber so geht es nicht mehr weiter.
Das ist natürlich Absicht. Die polnischen Entwickler 11 bit studios, die zwei Jahre an This War of Mine gearbeitet haben, wollten kein Spiel veröffentlichen, das Spaß macht. Das hätte die Idee sabotiert, die Grausamkeit des Kriegs auch jenseits der Schlachtfelder so ungefiltert wie möglich erlebbar zu machen. Trotzdem ist This War of Mine mit viel Sorgfalt entwickelt worden. Der Blick in die handgezeichneten Kulissen der verwüsteten Gebäude mit ihrer grau getönten Bleistiftoptik ist unglaublich eindrucksvoll. Immer wieder wird der Himmel durch Explosionen in der Ferne für Sekundenbruchteile grell erleuchtet, die Bedrohung ist zu jeder Zeit spürbar. Und obwohl es keinen Spaß macht, fasziniert und berührt mich This War of Mine so sehr, dass ich nicht aufhören will.
Es ist eine Kunst, ein Spiel zu entwickeln, das keinen Spaß macht, aber trotzdem so lange fesselt, dass es seine Botschaft vermitteln kann. Mit This War of Mine ist das meisterhaft gelungen. Das liegt auch daran, dass es immer wieder Momente gibt, in denen Hoffnung aufkeimt. Ein Mensch wird gesund, es ist endlich genug Material zusammengekommen, um einen Kräutergarten zu bauen. Vielleicht schaffe ich es sogar, bald ein bisschen Gemüse anzubauen. Der Winter ist vorbei, abgelegene Ecken der Stadt sind wieder erreichbar. In solchen Momenten denke ich, dass ich die Leben meiner Schützlinge vielleicht doch retten kann. Ich muss es zumindest weiter versuchen.
Tag 37: Nur Roman ist noch übrig. Emilia ist mit einem Teil der Vorräte geflohen. Pavle ist qualvoll verhungert, Marko wurde auf offener Straße von einem Heckenschützen erschossen. Roman ist ausgehungert, schwer verletzt und krank, die Vorräte sind erschöpft. Ich entschließe mich, das alte, wehrlose Ehepaar zu bestehlen, das in einem der wenigen intakten Häuser lebt. Roman nimmt sich, was er braucht. Er wird die Gesichter der beiden nicht vergessen. Aber er hat zum ersten Mal seit Tagen genug zu essen, Verbandsmaterial und Medizin.
Doch solche Momente der Hoffnung sind spärlich gesät und schnell vorbei. Die Spielmechanik ist so intelligent ausbalanciert, dass es nie möglich ist, zu entspannen und dem Spiel seinen Lauf zu lassen. Schon durch sein Spieldesign transportiert This War of Mine eine Erkenntnis: Krieg ist kein Spiel, das sich durch besonders geschicktes und kalkuliertes Vorgehen gewinnen lässt. Sicher, wer gut vorbereitet ist und Risiken abwägt hat bessere Chancen – im Spiel wie in der Realität. Aber letztlich bleibt das Leben im und mit dem Krieg unberechenbar, wie eine von Menschenhand gemachte Naturkatastrophe. Immer wieder ertappe ich mich dennoch bei ein und demselben Gedanken: Es muss doch irgendwie möglich sein, dass es für meine Zivilisten eine Art Happy End geben kann. Und dann ärgere ich mich über mich selbst, weil ich versuche, eine aus jahrzehntelanger Spielerfahrung gewohnte Konvention auf ein Spiel zu übertragen, das mit genau dieser Konvention bricht: Das Spielziel ist hier eben nicht das Überleben, auch wenn es theoretisch möglich ist.
In der 38. Nacht geht Roman auf eine erfolglose Plündertour. Als er zurückkehrt, haben andere die günstige Gelegenheit genutzt und alles mitgenommen: Lebensmittel, Medizin, Brennstoff. Alles, was Roman gestohlen hatte, ist wieder verloren. Roman ist am Ende. Er lässt sich auf einen Schutthaufen sinken und wiegt sich wie in Trance stetig vor und zurück.
Auch wenn es in diesem Moment wie die gerechte Strafe für den Überfall auf das Rentnerpaar aussieht: This War of Mine ist kein Spiel, in dem moralische Entscheidungen von einer übergeordneten Instanz geahndet oder belohnt werden, und der Schicksalsschlag ist kein Fall von ausgleichender Gerechtigkeit. This War of Mine macht vielmehr bewusst, dass es so etwas wie Gerechtigkeit im Krieg kaum gibt. Und dass über kurz oder lang Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern werden. Die Entscheidungen, die ich treffen muss, sind oft schmerzhaft und moralisch fragwürdig, aber ebenso oft nahezu unvermeidbar. Immer wieder frage mich, wie ich mich entscheiden würde, wenn es mein Leben wäre, und finde doch nur hypothetische Antworten. Zwar gibt es immer wieder kleine Lichtblicke der Menschlichkeit: Menschen, die einander helfen. Die sich gegenseitig trösten. Die ihre knappen Vorräte mit Fremden teilen. Doch Solidarität und Hilfsbereitschaft bleiben die Ausnahme, weil niemand viel hat und ständig alle an der Grenze dessen leben, was sie verkraften können. Implizit sagt This War of Mine damit auch: Selbst wenn der Krieg irgendwann vorbei ist, die Schäden bleiben. Nicht nur bei den Soldaten, sondern auch in der Zivilbevölkerung. Bei denen, die andere verletzen mussten, um nicht zu sterben. Bei denen, die selbst verletzt wurden oder die jemanden verloren haben. Auf die meisten trifft alles gleichzeitig zu.
Tag 39. Roman ist vollkommen apathisch. An einen weiteren Versuch, in der Nachbarschaft nach Lebensnotwendigem zu suchen, ist nicht mehr zu denken. Auch Roman wird sterben und ich werde dabei sein. Ich könnte das Spiel abbrechen, aber das will ich nicht. Sein Schicksal geht mir nah und ich kann mich nicht im schlimmsten Moment davonstehlen.
This War of Mine ist harte Kost, verstörend, traurig und brutal. Es tröstet wenig, dass Bruno, Roman und Pavle, Marko, Emilia und Arica fiktive Figuren sind: Ihre Geschichten beruhen auf Erfahrungsberichten von Zivilisten in Kriegsregionen, insbesondere im jahrelang belagerten Sarajevo, und sind zu nah an der Realität von Abertausenden, als dass Distanz entstehen könnte. Es wird eine Weile dauern, bis ich mich wieder an ein Survival-Spiel mit Zombies und Monstern wagen werde. Nach This War of Mine und im Wissen, dass an verschiedenen Orten der Welt Menschen auf ähnliche Weise um ihr Überleben kämpfen, erscheint mir Survival als Unterhaltungsprogramm im Moment zynisch. Ich weiß, dass sich dieser Effekt verlieren wird. Schließlich spiele ich auch Shooter ohne schlechtes Gewissen, obwohl Schusswaffen unfassbares Leid anrichten. Aber es wird etwas zurückbleiben von This War of Mine. Etwas, das beweist, welches aufklärerische Potenzial in Spielen jenseits von Unterhaltung und Kunst steckt. Kein Spiel hat dieses Potenzial wohl in diesem Jahr besser ausgeschöpft. Umso erfreulicher und wichtiger ist es, dass es auch kommerziell gut zu laufen scheint: In den Steam-Wochencharts steht This War of Mine derzeit auf Platz 2 und damit, oh Ironie des Zeitgeistes, hinter Far Cry und vor Call of Duty und Counter-Strike.
Die Nacht geht vorüber. Am nächsten Morgen erfahre ich, dass sich Roman das Leben genommen hat. 40 Tage lang habe ich den Überlebenskampf im zerbombten Haus gelenkt und begleitet. In diesem Zeitraum haben sechs Menschen dort gelebt. Die meisten von ihnen sind gestorben, das Schicksal der Übrigen ist ungewiss. Die Belagerung von Sarajevo dauerte 1.425 Tage und kostete Schätzungen zufolge mehr als 11.000 Menschen das Leben.