Liebe am laufenden Band. Der Rest bleibt auf der Strecke.
Von der letztjährigen E3 ist bis zu diesem Zeitpunkt wenig hängen geblieben. Es war eine routiniert ablaufende Veranstaltung ohne nennenswerte Ereignisse, wäre da nicht der Auftritt des schwedischen Entwicklers Martin Sahlin gewesen, der mit seiner ehrlichen Aufregung und Begeisterung wie ein zarter Krokus aus dem braunen Einheitsmatsch der EA-Präsentation herauslugte. Spätestens, als er mit zittrigen Händen eine kleine, rote Strickpuppe namens Yarny aus der Jackentasche zog, hätte ich ihn und sein Freudenknäuel am liebsten ganz fest an mein kaltes Herz gedrückt, damit sie es gemeinsam wieder erwärmen. Einige Monate sind seitdem ins Land gezogen und der damals angekündigte Puzzle-Plattformer Unravel ist endlich bereit für eine Umarmung. Doch leider zeigt sich dieser auf unerwartete Weise schrecklich unnahbar.
Dabei gerät die Begrüßung noch äußerst herzlich. Unravel ist bildhübsch und seine Welt mit einem unerreichten Detailgrad gesegnet, so dass die ersten Schritte darin ehrfürchtig und von kindlicher Neugierde erfüllt sind. Das Spiel findet unsagbare Schönheit im Alltäglichen und braucht keine Fantasieszenarien, um seinen Zauber zu wirken. Ein schwedisches Landhaus, eine Frühlingswiese oder ein rauschendes Bächlein – alles hier wirkt friedlich und beruhigend, während ich fast schon nebenbei lerne, den sich lösenden Wollfaden von Yarny geschickt für mein Vorankommen zu nutzen. Dieser dient gleichermaßen als Kletterseil, Trampolin und Lasso, muss aber stets mit Bedacht verknotet werden, damit die Wolle bis zum nächsten Speicherpunkt nicht ausgeht.
So kreativ die Idee auch ist, Spielfigur und Lösungs-Ressource miteinander zu vereinen, so schnell ist deren unverbrauchter Reiz auch wieder verflogen. Über weite Strecken hinweg benötigen die Aufgaben keine großen Gedankenexperimente, sondern lassen sich durch simples Herumprobieren lösen. Statt „AHA!“ entfleucht mir zumeist nur ein leises „hm, okay“ und der Umstand, dass sich die einzelnen Abschnitte dabei ziehen wie ein ausgeleiertes Schifferklavier, lässt meine anfängliche Freude über das sagenhafte Ambiente rasch versiegen. Der malerischen Faszination, die Unravel seinen alltäglichen Schauplätzen abgewinnt, steht letztlich eine doch überraschende Gewöhnlichkeit innerhalb der außergewöhnlichen Spielmechanik gegenüber. Es ist nur eine vorgegaukelte Tiefe, die bedauernswerterweise auch bei der begleitenden Geschichte unter deren Oberflächlichkeit verborgen bleibt.
Auch wenn der Vergleich vielleicht nicht ganz fair sein mag, so erinnert mich die verwendete Erzählweise von ihrem Sentiment her doch frappierend an den Edeka-Werbespot mit dem einsamen Weihnachts-Opa, der Ende letzten Jahres so viele Menschen zu rühren vermochte. Es sind Erinnerungen an ein langes Leben, an Freundschaften, an die erste Liebe und an die eigene Familie, die per Holzhammermetapher von Yarnys rotem Faden zusammen gehalten werden. Eine lose Schilderung vermeintlich persönlicher Erlebnisse, die rührselig auf den kleinsten gemeinsamen Gefühlsnenner eines Massenpublikums zugeschnitten sind. Dadurch wird jedwede Intimität und alles Individuelle auf einem ausufernden Allgemeinplatz geparkt und auch die kariessüße Hauptfigur wirkt zunehmend wie eine bloße Projektionsfläche für das eigene Lieblingsstofftier. Der Titel verharrt in seiner Vagheit und meidet das Konkrete so gut es geht, damit sich so viele Menschen wie möglich von ihm angesprochen fühlen. Und auch wenn es mir ein wenig das Herz bricht, erscheint mir seine Wirkung dadurch auf dem Niveau eines inspirierenden Kalenderspruchs zu verweilen, den eine tierliebe Grundschulbekanntschaft auf Facebook geteilt hat.
Unravel konzentriert sich so sehr auf seine makellose Außenwirkung, dass dabei völlig vergessen wurde, dem hübschen Gesicht auch einen eigenständigen Kopf beiseite zu stellen. Es mag in diesen Zeiten zwar erfrischend unzynisch daherkommen, ist dabei aber gleichzeitig so naiv, dass es mir schwer fällt, das Spiel über seine gesamte Dauer hinweg ernst zu nehmen. Dennoch habe ich keine Zweifel an den Worten der Entwicklerinnen und Entwickler, die vor dem ersten Spielstart beteuern, wie viel Liebe sie in dieses kleine Spiel gesteckt haben. Und auch wenn man der alten Rosenstolz-Lüge, dass Liebe alles sei, nicht zwanghaft Glauben schenken sollte, ist ihretwegen Unravel immerhin die schönste Enttäuschung geworden, auf der je das EA-Logo prangte.