Mike Bithell erzählt die Sage von Robin Hood
als dystopische Cyberpunk-Geschichte.
“Ganz nett, aber…” war mein erster Gedanke, als ich anfing Volume zu spielen. Es ist das neue Spiel von Mike Bithell, der seit dem Erfolg des 2012 erschienenen Thomas Was Alone zu den bekanntesten Namen der Indie-Szene gehören dürfte. Auf den Puzzle-Plattformer über Freundschaft folgt nun ein recht klassisches Stealth-Spiel in einer dystopischen Zukunft. Ein Spiel, das sich unter der Last einer immensen Erwartungshaltung beweisen muss.
Zum Auftakt springt das Spiels direkt zu seinem vermeintlichen Ende, bei dem Held Rob Locksley von einer Militäreinheit für ein noch unbekanntes Verbrechen festgenommen wird. Anschließend springt die Geschichte drei Stunden zurück und wechselt von der grauen Industriehalle direkt in die bunte, virtuelle Welt des Computerprogramms Alan. Das Ziel ist einfach: Locksley muss sich durch die in leuchtende Farben und klare Formen unterteilten Spielabschnitte schleichen, auf dem Weg Diamanten einsammeln und damit den Ausgang freischalten. Erschwert wird das durch Wachen, Alarmsysteme und verschlossene Türen. An dieser Aufgabe ändert sich im Verlauf der über hundert Level gestreckten Geschichte auch nichts mehr.
Bei mir war es etwa das zwanzigste Level, bei dem es klickte und aus dem “ganz nett” mehr wurde – der Moment, in dem Volume von einem guten zu einem großartigen Spiel wurde. Das Tutorial lag schon eine ganze Weile hinter mir, aber jetzt waren die Tricks und Mechaniken langsam so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich in der Lage war, die Sichtkegel der Wachen und die Reichweite meines zur Ablenkung eingesetzten Pfeifens sicher einzuschätzen. Es war der Moment, in dem ich das Spiel gut genug beherrschte, um zu erkennen, wie elegant viele der Levels gestaltet sind. Der Moment, ab dem ich gut genug war, um nicht mehr nur irgendwie zum Ende des Levels zu gelangen, sondern auch noch die Bestzeiten meiner Freundesliste schlagen zu wollen und mich langsam in die globalen Top 5 hochzuarbeiten.
Auch wenn die Geschichte ein spürbares Anliegen von Bithell war, so ist Volume in erster Linie ein durch und durch kompetitives Spiel. Die Bestzeiten laden von Anfang an dazu ein, die eigenen Leistungen zu vergleichen und zu verbessern. Das simple Konzept, das in jedem Level gleich ist, und doch in jedem eine neue Herausforderung bietet, brachte mich nach etwa einem Drittel des Spiels dazu, noch einmal alles von Anfang an zu spielen, um meine bis dato furchtbar schlechten Zeiten zu verbessern und zumindest die von Dennis zu überholen. Und je besser meine Platzierungen in den Ranglisten wurden, desto mehr wuchs das Verlangen in mir, noch einen weiteren Speedrun durch den besonders schweren Level zu wagen.
Dieser Trieb zur Verbesserung und der Suche nach Lücken und Abkürzungen führt zu einer überraschenden Entdeckung: Die Speicherpunkte innerhalb der Level dienen nicht einfach nur dazu, im Fall des Versagens nicht gleich alles neustarten zu müssen, sondern sind oft direkter Teil zu seiner Lösung. Sich von Gegnern in eine Ecke treiben lassen, um den dort liegenden Speicherpunkt zu aktivieren und nach dem Tod einfach von dieser Stelle weiterzuspielen ist kein Schummeln, sondern eine legitime Herangehensweise an manche Puzzles.
Eine Option, die nur in der Computersimulation des Spiels funktionieren kann, aber nicht in der echten Welt. Dieser Gedanke bleibt im Hinterkopf hängen, denn Locksley bricht nicht in echte Villen und Museen ein, er simuliert sie lediglich unter realistischen Bedingungen. Diese Simulationen überträgt er ins Internet, um den unterdrückten Menschen Englands zu zeigen, wie sie sich das zurückholen können, was die Regierung ihnen gestohlen hat. Locksley weiß, dass sie ihn am Ende dieser Übertragung finden werden, aber seine Überzeugung lässt ihn zum Märtyrer werden.
Ironischerweise ist die Geschichte des Spiels, das so viel Ehrgeiz in mir weckt, eine vom Überkommen von Klassenhierarchien. In einer nahen Zukunft wurde England in einem Putsch vom Industriellen Gisborne und seiner Armee erobert. Seitdem herrscht eine klare Herrschaft des Geldes – die Reichen werden reicher und die Armen bleiben arm. Volumes Botschaft ist alles andere als subtil: Locksley ist der Robin Hood in einer dystopischen Cyberpunk-Zukunft, die letztendlich aber doch nur eine gar nicht so unvorstellbare Satire des Spätkapitalismus ist.
Das kompetitive Spiel und die anarchistische Aussage stehen dabei durchaus im Widerspruch zueinander. Doch Bithell erinnert ständig daran, dass er sich dessen bewusst ist. Wie schon bei Thomas Was Alone zieht sich sein trockener und selbstbewusster Humor durch die sonst oft so dramatische Geschichte einer möglichen Revolution, zitiert Metal Gear und Terminator, lässt Jim Sterling als empörten Internettroll auf Locksley los und seine Fans Rap-Songs über ihren Helden schreiben.
Zwischen den humorvollen Wortgefechten von Locksley und Alan und dem drohenden Ende durch Gisbornes in der realen Welt anrückenden Soldaten findet Volume jedoch auch Zeit für kleine Geschichten am Rande. In den Levels lassen sich Emails und Chatprotokolle finden, die eine lang vergangene Liebesgeschichte erzählen oder Zeitungsartikel, die vom Kampf der intelligent gewordenen Computer für ihr Recht als Lebewesen berichten. In Thomas Was Alone ließ Bithell uns mit stummen Vierecken mitfühlen, hier mit den Menschen hinter unscheinbaren Texteinblendungen.
Hinter dem großartigen Design des Spiels und der Jagd nach Highscores, dem durch einen Level-Editor nahezu endlosen Wiederspielwert, hinter all dem Humor und den kleinen alltäglichen Geschichten, steckt eine Wut. Wut auf ein System, das die Menschen ausbeutet und eine Wut auf die Profiteure dieses Systems. Wut auf Militarisierung und Unmenschlichkeit. Eine mit viel Können und Cleverness erzählte Geschichte, die trotz der Wut auch immer wieder voller Selbstzweifel steckt, weil sie um ihre eigenen Widersprüche weiß. Und all das findet sich in dem Spiel wieder, das Volume ist.