Viele kleine Geschichten in einer großen,
garniert mit Tod, Texten und originellen Ideen.
Vor Jahrzehnten verließ Odin Finch seine Heimat Norwegen und segelte nach Amerika, um dort ein neues Leben zu beginnen. Edith Finch, die Protagonistin und Odins Ururenkelin, findet sich nun in einer ähnlichen Situation wieder. Sie schlägt ihr Tagebuch auf und liest noch einmal, was sie gerade geschrieben hat. In diesem Moment wird ihr Tagebuch zur Zeitmaschine, die sie in die Vergangenheit trägt und uns als Spielenden die Möglichkeit bietet, ihre Geschichte zu erleben. Eine Idee, die das Spiel noch öfter nutzt. Edith und ich gehen einen Weg in einem Wald entlang. Schon bald ragt das surreale Gebäude in die Luft, das Ediths Elternhaus darstellt. Edith ist die letzte Überlebende der Familie und kehrt in das Haus zurück, um mehr über ihre Wurzeln und den Fluch zu erfahren – der Grund, wieso sie die einzige verbliebene Finch ist. Eine Flut an Erinnerungen prasselt auf sie ein und überall gibt es Objekte, zu denen Edith etwas erzählt.
Das besondere an dem Haus der Finchs ist, dass die Türen zu den Zimmern der Toten versiegelt wurden. Seit dem Tod der Personen, die die Zimmer einst bewohnten, hat sich nichts verändert. Edith und ich folgen wortwörtlich den Spuren ihrer Verwandten und begeben uns durch versteckte Tunnel und abenteuerliche Wege von einem Zimmer ins andere. Das ist nicht der einzige Moment, in dem der Spieler eine Metapher der Erzählung tatsächlich ausübt. Allgemein folgt What Remains of Edith Finch dem Ansatz, dass Zeigen, und darüber hinaus Erleben, besser ist als Erzählen. Und so steht in jedem Zimmer ein Schriftstück bereit, das Spielende in die Perspektive des/r Verstorbenen versetzt. Mal sind wir in der Vorstellung der kleinen Molly, die so einen großen Hunger hatte, dass sie zum Seemonster wurde. Mal sind wir in einem Comic, der die letzten Momente des ehemaligen Kinderstars Barbara erzählt. Und mal sind wir der verschollene Onkel, der jahrelang das gleiche tat, bis sich etwas änderte. Diese Geschichten sind das Herzstück von What Remains of Edith Finch.
Edith als Charakter ist mehr Katalysator als Mittelpunkt des Geschehens. Sie entwickelt sich weiter, verrät hier und da etwas über sich und lenkt den Spieler durch ihre Geschichte – ganz wie sie durch die Hinterlassenschaften ihrer Verwandten durch deren Erinnerungen gelenkt wird. Je länger ich darüber nachdenke und vor allem das Ende betrachte (das ich aus ganz offensichtlichen Gründen nicht weiter beschreibe), desto verwirrender wird das Konstrukt aus Ebenen, die sich überschneiden, den Erzähler wechseln und sich doch zu einem Gesamtbild zusammenfinden. Obwohl ich an dieser Stelle keinen medienübergreifenden Vergleich anstrebe, weil Spiele durch ihre Mischung aus Passivität und Partizipation für mich nicht immer mit anderen Medien vergleichbar sind und quasi ihr eigenes Ding machen (dürfen), ist es ganz nützlich, dass ich ein wenig über Literaturwissenschaften weiß. Wieso also nicht mal ein Spiel analysieren, das ganz eindeutig großen Wert auf seine Geschichte legt und auf den ersten Blick unheimlich verwirrend sein kann?!
Edith ist die Erzählerin der Rahmenhandlung. Das ist die Geschichte, die wir primär verfolgen und die alle anderen Geschichten in einen Kontext setzt. Edith erzählt ihre eigene Geschichte und die Tatsache, dass sie somit gleichzeitig Teil der Handlung und der Welt ist, führt dazu, dass wir sie als verlässliche Erzählerin wahrnehmen – sie hat schlicht keinen Grund zu lügen. Die Binnenhandlungen, auf die wir durch Tagebücher, Briefe oder Comics Zugriff erhalten, sind im Prinzip nichts anderes als Rückblicke, das Spiel also eine nonlineare Erzählung, die mehr einem Patchwork als Stangenware gleicht. Während sich die Rahmenhandlung auf einen Höhepunkt zu bewegt, sind die kleinen Erzählungen das wirklich Wichtige am Spiel. Sie zeigen neue Perspektiven, die weder ich als Spielerin noch Edith als Erzählerin haben. Immer wieder erkenne ich Kleinigkeiten wieder und verstehe Andeutungen, die mir das Spiel schon vor einigen Minuten vor die Nase gehalten hat. Ich fühle mich auf eine seltsame Art und Weise als Teil der Welt, nicht als Fremdkörper, der auf einem fremden Dachboden herumgeistert. Edith ist ich, was vielleicht (wahrscheinlich) dem Alter, dem Geschlecht und diversen anderen Parallelen geschuldet ist. Aber eben auch der Erzählform, die eine Identifizierung mit der Protagonistin so einfach macht. Dieses Phänomen, das What Remains of Edith Finch in voller Gänze verdeutlicht, beeinflusst meine Wahrnehmung. Ich bin gleichzeitig Ediths Gefährtin und fühle mich als Adressatin des Tagebuchs, aber auch als Außenstehende, die nicht die gleichen Gedanken wie Edith haben kann. Wenn Edith über ihre Familie erzählt (was sie ziemlich oft tut), werde ich mir meiner eigenen Familie bewusst und bin in Gedanken zurück auf dem heimischen Dachboden, wo Erinnerungen entstaubt und evaluiert werden, wo Gegenstände Auslöser für Geschichten sind und wo unbeschwerte Kindheit mit Tod konfrontiert wird.
Auch wenn die Geschichte teils generisch ist und sich nur die Erzählform von der Fülle an interaktiven Geschichten abhebt, versucht What Remains of Edith Finch mit ganzer Kraft sich von den Archetypen interaktiver Narration loszusagen und das Gameplay und die Eigenarten des Mediums mit der Geschichte zu verbinden. Das funktioniert insofern, als dass keine Diskrepanz entsteht, an manchen Stellen ist sogar eine gewisse Synergie zu erkennen. Beispielsweise dann, wenn ich die Geschichte von Lewis erlebe, der in der Konservenfabrik seiner monotonen Arbeit nachgeht und im Kopf ein Abenteuer erlebt. Während ich weiterhin mit dem rechten Analogstick seine Arbeit verrichte, kann ich mit dem linken Stick das Abenteuer in Lewis‘ Kopf erleben. Hier wird die Simultanität auf jeder möglichen Ebene dargestellt und erlebbar gemacht. What Remains of Edith Finch behält den minimalistischen Stil dabei immer bei, es gibt keine Cutscenes und keine vollkommene Autarkie für Spielende. Denn wo bei anderen Spielen der Spieler einen Strich durch die Immersions-Rechnung der Geschichte macht und schlicht nicht das tut, was er soll, löst What Remains of Edith Finch dieses Problem mit einem Minimum an Interaktionsmöglichkeiten und einem extrem linearen Leveldesign. Retrospektiv betrachtet sollte ich genau das an dem Spiel bemängeln, aber es passt einfach zu gut. Mein Ziel ist es, die Geschichten zu erleben und das Spiel macht es mir verdammt einfach. Die Erzählungen und Handlungen werden nicht voneinander getrennt und das Spiel zeigt die gleiche Kontinuität, die eine Familie in Wirklichkeit repräsentiert – es sei denn man ist, wie Edith, die letzte Überlebende einer Familie.
What Remains of Edith Finch sieht wunderschön aus. Fotorealismus beiseite, es kommt auf die Details an. Das sind entweder die zahllosen Bücher, die überall stehen oder die Umgebung, die mit ihrer Einöde und dem wilden Wachsen der Pflanzen auf bizarre Art die Finch-Familie repräsentiert. Das ist das traurigste Fenster der Welt (das gar kein Fenster ist, sondern nur ein mit Gardinen umhangenes Gemälde einer Landschaft) oder die Spielsachen der Kinder, die ihre Zukunft erahnen lassen. Tod als zentrales Motiv eines Spiels kann in die Hose gehen. What Remains of Edith Finch zeigt statt der Trauer die Wertschätzung, Erinnerungen und innere Ruhe, die Edith empfindet. Sie schweift nicht ab in Gedanken über den Sinn des Lebens, Sterbehilfe, Übernatürliches oder andere typische Ideen, die ein Spiel über Leben und Tod sonst thematisiert. Stattdessen denkt sie an die Person, fragt sich, ob sie Freunde gewesen wären oder erinnert sich an Charakteristika oder Ereignisse. Lebensbejahend ist hier nicht das richtige Wort. Doch wo man sonst nihilistische Zweideutigkeit erwartet, zelebriert What Remains of Edith Finch Reminiszenz. Zu guter Letzt kann die Art und Weise, wie das Spiel mich in meinen Handlungen beschränkt und mich dadurch die wenigen Handlungen viel intensiver wahrnehmen lässt, überzeugen. Schieße ich zum 100. Mal einen Gegner weg, ist das nicht mehr dramatisch. Bin allerdings ich es, die nichts tun kann, außer die Beine eines 11-jährigen zum Schaukeln zu bringen, der kurz darauf von der Schaukel über die Klippe stürzt, ist die Situation deutlich gravierender.
Was mich tatsächlich stört, sind die sehr kurzen Geschichten – ideal für den geduldlosen Spieler mit einer Aufmerksamkeitsspanne, die viele Schnitte in Filmen und virtuelle Reizüberflutung auf ein Minimum reduziert haben. Oder anders: Für meinen Geschmack ist What Remains of Edith Finch viel zu kurz. Das mag daran liegen, dass ich kein Problem damit habe, in endlosen Geschichten zu versinken und Narration fast lieber mag als spielen, aber auch ganz objektiv betrachtet reichen die wenigen Stunden nicht aus, die ich mit Edith Finch verbringen konnte. Die Katharsis, die diese Erfahrung für Edith war, um sich selbst zu finden und Nähe zu ihrer Familie zu schaffen, geht nicht unbedingt auf mich über. Und doch würde ich jetzt gerne auf den Dachboden klettern und meine eigenen kleinen Geschichten spielen – wenn auch nicht ganz so makaber.
What Remains of Edith Finch von Giant Sparrow ist vieles: eine Sammlung von Geschichten, ein Walking Simulator und interaktive Fiktion. Vor allem aber erinnert es mich an einen Besuch auf dem Dachboden meiner Eltern – voller Schätze und Erinnerungen, eine Reise in die Vergangenheit und eine Metapher für Familie, Leben und Tod, wenn man bedenkt, dass sich über Jahrzehnte hinweg dort Gegenstände angehäuft haben, die mal Personen gehörten, die mittlerweile tot sind, aber eben kleine Geschichten über ihr Leben erzählen. Ganz nebenbei demonstriert das Spiel den feinen Grad zwischen Narration und Interaktion und zeigt mit kleinen, aber innovativen Ideen, dass dem Medium mehr zuzutrauen ist, als viele andere Erscheinungen vermuten lassen.