Der Widerspenstigen Zähmung: Videospielvermarktung nach Shakespeare
Dieses Jahr ist noch nicht vorbei, doch seine Versprechen sind längst vergessen. Versprechen von großartigen, bahnbrechenden Spielerlebnissen, die sich schlichtweg nicht erfüllt haben und deshalb von neuen Versprechen abgelöst wurden. Watch Dogs, Titanfall, Destiny, The Elder Scrolls Online, Driveclub und ganz frisch dabei, Assassin’s Creed: Unity, überzeugten mit cineastischen Vorführfilmchen, welche die Vorverkaufszahlen genauso in die Höhe schießen ließen, wie die Zahl derjenigen, die danach ihren verfrühten Kauf bereuten. Dass im aktuellen Fall Unity-Publisher Ubisoft scharf für seine Embargopolitik, technische Mängel, Ideenlosigkeit und unverschämte Mikrotransaktionen kritisiert wird, ist unter den gegebenen Umständen verständlich und richtig, aber auch nicht mehr als ein Fluchen über Symptome, deren Ursachen man seit Jahren erfolgreich ignoriert. Denn wenn ein anderer großer Publisher wiederholt zum schlimmsten Unternehmen der USA gewählt wird und zeitgleich Rekordverkäufe verbuchen kann, gestaltet sich die Suche nach einem Sündenbock deutlich komplizierter, als es vielleicht den Anschein hat.
“Die Menschen wachsen in Täuschungen auf, und sie müssen Täuschungen haben, um sich zu trösten.” (Rabindranath Tagore)
Doch wie erklärt man nun solch ein Paradoxon? Wie ist es möglich, dass ein minderleistendes, unfertiges oder den Käufer gängelndes Produkt nicht in wirtschaftlichem Misserfolg resultiert? Zunächst sollte man sich bei der Suche nach Antworten bewusst machen, dass der Vermarktungszyklus großer Titel mittlerweile dem Aufbau eines klassischen Shakespeare-Dramas gleicht. Über Monate, manchmal Jahre hinweg, wird ein sich noch in Entwicklung befindliches Spiel dem Zielpublikum bekannt gemacht und mit immer neuen Verheißungen und spektakulärem Bildmaterial unterfüttert, damit der Spannungsbogen und die Erwartungshaltung in die Höhe schnellen. Was beim alten Willy noch Exposition und steigende Handlung hieß, nennt sich hier vereinfacht Hype.
Hype kann sowohl Grundstein als auch Grabstein für den Erfolg des späteren Endproduktes sein. Wie bei Onkel Schüttelspeer, der gern Motive wie Hinterhältigkeit und List in seinen Stücken verwendete, ist die gezielte Täuschung ein wichtiger Bestandteil dieses Prozesses, deren frühzeitige Entlarvung den Klimax, also einen erfolgreichen Verkaufsstart, gefährden würde. Dieser markiert schließlich auch ganz klassisch die Wendung der bisherigen Handlung. Es ist der Moment, in dem sich die Täuschung in Enttäuschung und der Hype in Luft auflösen. Ein Augenblick der Klarheit in der totalen Vernebelung, zu spät, um noch reagieren zu können. Es bleibt nur die Abreaktion. In der nun fallenden Handlung ist der Aufschrei über die eklatanten Mängel und fälschlich geschürten Erwartungen die Retardation, ein Versuch des Spannungserhalts, durch den ein Spiel wie AC: Unity im Kollektivbewusstsein verharrt, bevor es Platz für das neue Far Cry macht. Eine Konfliktlösung ist bei so viel Drama schlicht undenkbar.
“Geduld ist gut für Memmen.” (William Shakespeare)
Nun könnte man anführen, dass die Leserinnen und Leser einer Tragödie stets in die Täuschungen der handelnden Figuren eingeweiht sind und der Vergleich zur Kundenverarsche durch Beschönigungen und Verschleierungen seitens großer Publisher hinkt. Doch wenn man davon ausgeht, dass Millionen von Spielenden nicht allesamt gleichzeitig am Stockholm-Syndrom leiden, muss die Nachfrage erlaubt sein, warum trotz unzähliger Beispiele vergangener Wortbrüche immer noch so viel vorbestellt wird? Warum stellen sich so viele bei Mitternachtsverkäufen in die Kälte oder schlagen sich in Elektrofachmärkten um eine neue Konsole, als seien es Fresspakete für die hungernde Familie daheim? Es entsteht der Eindruck, dass jedes Spiel ein Heilsversprechen sei, eine neue Chance, nachdem einem das Herz gebrochen wurde. Früher hat Opa immer eine Münze hinter dem Ohr hervorgezaubert und man hat sich gefreut wie Bolle. Wenn man ihn heute besucht, freut man sich immer noch auf diesen Trick, ist schließlich aber doch enttäuscht, wenn er am Ende keinen dicken Schein hinter dem Lauscher hervorzieht. Die Erwartungshaltung an Umfang, Grafik und Gameplay aktueller Titel ist immens gestiegen, ihre Versprechen passen sich dementsprechend an. Oder umgekehrt. Henne oder Ei, Dragostea din tei von O-Zone oder von Haiducii. Weiß doch keiner mehr, was zuerst da war.
Diese ständige Hassliebe zwischen Spielenden und Publishern wird durch ungenügende Pressearbeit befeuert, die sich besonders online durch das kommentarlose Abdrucken von euphorischen Pressemitteilungen an der Rummelbildung beteiligt und mit überhasteten Tests, noch möglichst vor Release, weder Konsumenten noch Entwicklern einen Gefallen tut. Dumm nur, dass diese Art von Spielejournalismus die geforderte ist. Wer nicht pünktlich liefern kann, der muss ein Spiel erst gar nicht testen, denn in der Zwischenzeit hat man sich längst andernorts die benötigte Prozentzahl besorgt. Und so fehlt es an Sorgfalt und Berichten abseits von Bildwiederholungsraten und Auflösungsangaben, weil für die eingehende Beschäftigung mit einem Titel keine Zeit mehr bleibt. Es ist bedauerlich, dass von allen Seiten so wenig Geduld gezeigt wird und so niemand wirklich zufrieden wirkt. Doch wer zu spät zieht, verliert. Ubisoft das Weihnachtsgeschäft, Gamestar die werberelevanten Klicks und der Call-of-Duty-Fan die doppelten Erfahrungspunkte aus der Vorbestelleredition.
That's it, we're giving up the premium game. Next time we're just going to sell you 500 coins for $2 instead.
— ustwogames (@ustwogames) 12. November 2014
Und so nimmt Ubisoft die Wut und Enttäuschung erneut in Kauf, weil sie längst zum Geschäftsmodell gehören. Blockbusterproduktionen müssen nicht mehr großartig sein, es reicht, ein paar Monate so zu tun, als könnten sie es werden, um große Verkaufserfolge zu feiern. Daneben wird kleinen, liebevollen Titeln im Appstore ans Bein gepinkelt, wenn sie sich erdreisten, den Preis eines Cornettos einzufordern. Das ist nicht die Realität, die irgendein Publisher geschaffen hat, sondern für die man durch das eigene Konsumverhalten eine Mitverantwortung trägt. Dass große Firmen dennoch gern die Schuld auf sich laden, solange die Zahlen stimmen, folgt einer deutlich klareren Logik als Beschwerden über Serverprobleme am Releasetag, DLC-Wahnsinn und weniger als 60 Bilder die Sekunde. Denn spätestens zur nächsten E3 haben sie wieder ein paar aufwendige, cineastische Trailer parat, die der Widerspenstigen Zähmung Genüge tun werden. Doppelte Erfahrungspunkte für Vorbesteller inklusive.