Nikolas Swanberg hat mit Sylvio eines der besten Horrorspiele
der letzten Jahre erschaffen. Leider bekam es kaum jemand mit.
Als ich das erste Mal von Sylvio hörte, lag die Veröffentlichung des Horrorspiels bereits zwei Monate zurück. Die geringe Aufmerksamkeit ist wenig verwunderlich, denn auf den ersten Blick macht es nicht viel her. Screenshots erwecken den Eindruck billiger Greenlight-Massenware, zusammengebastelt aus Unity-Assets und aufgepeppt mit Schockeffekten, um ein paar Klicks kreischender Let’s Player zu sammeln. Es brauchte einen überschwänglich lobenden Review auf Kill Screen, um mich davon zu überzeugen, dass sich hinter der hässlichen Fassade mehr verbergen könnte.
Der Ersteindruck hätte nicht irreführender sein können. Sylvios subtiler Horror zieht seine Inspiration aus den albtraumhaften Szenarien von Twin Peaks und The Shining. Ganz ohne Jumpscares und Zombies erzeugt es den Horror allein durch seine Geräuschkulisse. Entwickelt wurde das ungewöhnliche Genrespiel vom Schweden Niklas Swanberg. Mangelnde Erfahrung mit 3D-Grafik glich er durch sein Talent für unheimliche Klänge aus.
Bevor er sich als Spieleentwickler unter dem Namen Stroboskop selbstständig machte, arbeitete Swanberg als Sounddesigner und Komponist beim Theater. “Seit ich in den 80ern Textadventures mit Basic baute, waren Spiele ein Hobby von mir. 2010 veröffentlichte ich ein simples Horrorspiel für iOS. Ein paar Mobilegames später entschied ich mich, etwas Großes zu bauen. So wurde Sylvio geboren.” Swanbergs Hintergrund sollte für sein nächstes Projekt gleich in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung sein.
Beim Theater lernte er die Schauspielerin Maia Hansson Bergqvist kennen, die Sylvios Hauptfigur Juliette Waters ihre Stimme lieh. “Sie hat etwas sehr direktes, reines an sich. Sie war meine erste Wahl für den Part und ich bin sehr glücklich, dass sie ja gesagt hat.” Bergqvists leise, fast zerbrechliche Stimme ist Sylvios Anker in der Realität. Im Kontrast zu ihr stehen Geister, die zu ihr sprechen. Aufgenommen mit einem analogen Tonbandgerät bilden ihre körperlosen, verfremdeten Stimmen den Mittelpunkt der Geschichte.
Versatzstücke aus Radiosendungen, Walkie-Talkie-Aufnahmen und Sprachsynthese-Software schickte er durch eine Mischung aus analogen und digitalen Effekten, um das einzigartige Sounddesign des Spiels zu erschaffen. “Es hat eine ganze Weile gedauert, bis sie wie EVP klangen und ich bin sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Diese Stimmen sind das Rückgrat von Sylvio.” EVP steht für “Electronic Voice Phenomenon” – zu Deutsch Tonbandstimmen. Dieses Phänomen behandelt unerklärbare Stimmen in Tonaufnahmen.
Diese vermeintlichen Nachrichten aus dem Jenseits sind nicht das einzige paranormale Phänomen in Sylvio. Neben Horrorfilmen und -spielen hatte die Dokumentation The Nightmare großen Einfluss: die Gestaltung der als lebendige Schatten auftretenden Gegner sind an Halluzinationen angelehnt, die Menschen unter Schlafparalyse erleben. Durch diese Vermischung aus Realität und Esoterik erreicht Sylvio eine beunruhigende Stimmung, die noch lange nach dem Beenden des Spiels anhält. Viele Horrorspiele entzaubern sich selbst, indem sie ihren Schrecken zu offensichtlich präsentieren. Sylvio bleibt stets vage, von den schwer verständlichen Stimmen bis zu den undeutlichen Silhouetten der Geister.
Trotz wohlwollender Kritiken auf Websites wie Kill Screen und Rock Paper Shotgun blieb Sylvio ein Geheimtipp. SteamSpy schätzt die Verkaufszahlen auf etwa 2000. Die positiven Rezensionen und eine erfolgreiche Kickstarter-Kampagne zur Finanzierung des ersten Teils waren dennoch genug, Swanberg zu mehr zu ermutigen. Bereits ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung kündigte er eine Fortsetzung an. Das Ziel des Crowdfundings war nun um einiges höher. Statt 1000 EUR sollte das Budget diesmal fast 14000 EUR betragen. Angesichts des moderaten Erfolgs ein durchaus ambitioniertes Ziel. Doch hatte Swanberg jetzt die Auszeichnungen des ersten Teils und einen spielbaren Prototypen mit polierter Grafik vorzuzeigen.
Die Kampagne scheiterte. Es war kein spektakulärer, aber doch ein deutlicher Fehlschlag. Knapp 35% fehlten zum Erfolg. Statt zu resignieren, sammelte Swanberg sich in einem offenen, selbstkritischen Postmortem: “In meiner Begeisterung vergaß ich, einen Schritt zurück zu gehen. Jeder kann ein neues Spiel unterstützen, aber bei einer Fortsetzung wirst du das Original kennen wollen. Und wie sich herausstellt, taten das nicht genug.”
Die Fortsetzung ist damit noch lange nicht gestorben. “In meinem Kopf sind die Ideen noch sehr lebendig und ich kann nicht warten damit anzufangen. Das Spannende ist, dass nichts davon konkret ist. Das ist die große Freude daran, für sich selbst zu arbeiten. Ich trage keine Verantwortung für jemand anderes. Wenn ich aus Sylvio 2 plötzlich ein Rennspiel machen wollte, müsste ich das mit niemandem diskutieren. Ich bezweifle, dass das passiert, aber dieses Gefühl völliger Freiheit, darin liegt die Schönheit.”
Bevor es für Swanberg weitergeht, blickt er erneut zurück. Ihm ist durchaus bewusst, dass sein Spiel keine Schönheit ist. “Ich liebe an alten Spielen auf der PlayStation dieses Dreckige. Die krude Grafik kann der Stimmung sehr zuträglich sein und ich denke, das hat auch bei Sylvio gut funktioniert.” Eine rein stilistische Entscheidung war es aber nicht. Als selbstfinanziertes Ein-Mann-Team ist Zeit ein Luxus.
Die Arbeit, die in den Prototyp von Sylvio 2 geflossen ist, kommt nun auch dem ersten Teil zugute. Um den Geheimtipp einem größeren Publikum zugänglich zu machen, veröffentlichte Swanberg eine “Remastered Version”. Kaum ein Objekt und kaum eine Zeile Code blieben unberührt, um Sylvio einen massentauglicheren Look zu verleihen. “Ich hoffe die neue, sauberere Grafik erlaubt eine größere Immersion. Ich weiß, dass die schwebende Taschenlampe für einige Leute ein Problem war. Mein Ziel ist es, die Leute in mein Spiel eintauchen zu lassen und wenn ich Hindernisse auf dem Weg dahin entfernen kann, tue ich das.”
Auf die Frage nach dem besten Horrorspiel aller Zeiten, erhalte ich eine überraschend unbescheidene Antwort: “Ich müsste Sylvio sagen. Wenn ich nicht so denken würde, hätte ich niemals die Kraft gefunden, es zu beenden. Es tut mir leid, wenn mich das zu einem Arschloch macht.” Der lächelnde Smiley, mit dem Swanberg den Satz beendet, macht die Entschuldigung überflüssig. “Ich denke, Sylvio ist jetzt das Spiel, das es immer sein sollte.” Swanberg wird weiterhin Spiele machen. Vielleicht nicht solche, die sich als Sprungteufel für virale Videos eignen. Leise, subtile Spiele. Ihr Schöpfer ist bereit, dazuzulernen. Statt einer weiteren Kampagne auf Kickstarter spenden ihm Fans jetzt einige hundert Euro monatlich auf Patreon. Das reicht zwar nicht für einen Lebensunterhalt, zeigt aber das Vertrauen derjenigen, die er mit Sylvio erreicht hat.
“Horrorfilme sind wie eine Welle, die über dir bricht. In einem Spiel kannst du im Moment verweilen, auf der Welle reiten und die Atmosphäre in deinem eigenen Tempo genießen. Horror ist ein zentrales Gefühl, so wie Glück oder Trauer, und es ist gehört zum Menschen. Das macht es so kraftvoll – und unterhaltsam!” Sylvio war ein Versuch, dieses Gefühl zu erkunden – und auch unabhängig von den Verkaufszahlen ein erfolgreicher.