Gedankenspiele: Über die Inflation positiver Wertungen

Bioshock Infinite ist im Grunde nicht mehr als ein effekthaschender Twistmarathon mit monotonem Dauergeballer. Aber was weiß ich schon, das Spiel hat schließlich eine Durchschnittswertung von 94% und ist damit zwangsläufig eines der besten Spiele aller Zeiten. So wie zweifelsohne auch The Legend of Zelda: Breath of the Wild. Zahlen lügen schließlich nicht. Es sei denn, sie können auf den freien Spielejournalisten Jim Sterling zurückgeführt werden, der es nicht nur im vergangenen Sommer wagte, das allseits beliebte No Man’s Sky eher so mittel zu finden, nein, er findet den angesprochenen Zelda-Teil nun allen Ernstes lediglich gut. Da ist es nur folgerichtig, dass, so vermutet Sterling zumindest selbst, Freunde der objektiven Spielberichterstattung zum wiederholten Male jenen unsäglichen Webauftritt mit DDoS-Attacken lahmlegten, über den Sterling seine diffamierenden Hetzschriften frei zugänglich (auch für Kinder!) ins Netz stellt. Wegen einer 7 von 10. Einer Sieben von Zehn.

Während die Meisten unter uns sich vermutlich vor Freude die Nasenhaare rausreißen würden, wenn ihr HotOrNot-Account eine solch schmeichelhafte Wertschätzung erführe, ist eine 7/10 (oder 70% oder 7.0 oder ein Tag im Vogelpark Walsrode) für ein Videospiel gleichbedeutend mit einem weißen Fehdehandschuh, welcher der treuen Anhängerschaft eines Spiels affrontiv an die mit Doritos gefüllte Pausbacke gesemmelt wird. Eine Kampfansage, die nur in den seltensten Fällen unbeantwortet bleibt. Um herauszufinden, warum sich die Rächer der Entwerteten so brüskieren, reicht ein kurzer Blick auf die Durchschnittswertung von annähernd 1.000 Videospielen aus dem letzten Jahr. Diese liegt laut dem Wahrheitsermittlungsportal Metacritic bei, viele ahnen es sicher schon, 7 von … na? … genau, 10 Punkten. Was für ein tolles Ergebnis, wird man doch offenbar verwöhnt von überdurchschnittlichen Titeln. Diese überdurchschnittlichen Titel bilden also den Durchschnitt, was sie dann praktisch wieder zu durchschnittlichen Titeln macht und durchschnittliche Titel zu unterdurchschnittlichen und unterdurchschnittliche haben nach unten hin keinen Platz mehr und kommen deshalb oben unter dem Namen “Bioshock Infinte” wieder als vermeintlich überdurchschnittliche zum Vorschein. Wenn eine Wertungsskala in einem so stark verschoben ist, verdichten sich die Grenzen von guten und eher ungeilen Spielen auf solch engem Raum, dass sie nicht mehr wirklich voneinander zu unterscheiden sind.

Umso obskurer wirken die Anfeindungen und Drohungen, die Rezensent(inn)en mit einer gewissen Reichweite wie Sterling mit jedem neuen Artikel in Kauf nehmen müssen. Es ist ein Mangel an Verständnis für die praktisch nicht vorhandene Bedeutung von Zahlen im Bewertungskontext eines kreativen Zerstreuungserzeugnisses. Wertungszahlen werden seit jeher dazu genutzt, einem höchst subjektiven Empfinden eine vermeintliche Objektivität anzuheften, bedeuten letzten Endes jedoch eine selbst auferlegte Bürde für Reviewer und Publikum gleichermaßen. Ein Text ist nicht mehr allein dazu da, die eigene Wahrnehmung eines Titels in Worte zu fassen. Aussagen müssen sorgsam abgewogen und in ein Verhältnis mit einer endgültigen Zahl gebracht werden, was nicht nur Formulierungen vorsichtiger und steifer werden lässt, sondern etwas voneinander zu trennen versucht, das so überhaupt nicht trennbar ist: Werk und Rezipient.

Ganz anschaulich verdeutlicht wird das bei Sterlings Rezension zu Breath of the Wild. In dieser kritisiert er Aspekte und Spielelemente, die in ähnlicher Form auch in dem von ihm besser bewerteten Horizon: Zero Dawn vorzufinden sind. Objektiv betrachtet ein richtiger Einwand, doch würde ernsthaft jemand argumentieren, dass man ein Lied von James Blunt gleich bewerten müsse wie eines der Beatles, nur weil beide Stücke dieselben Akkorde aufweisen? Wie alle anderen Unterhaltungsmedien auch empfinden wir ein Spiel höchst unterschiedlich und individuell, weil wir alle einen Rucksack voller unterschiedlicher Erfahrungen, Hintergründe und Ansichten aufhaben, wenn wir den Controller in die Hand nehmen. Dies zu leugnen mag Publishern in die Hände spielen, die Bonuszahlung an Durchschnittswertungen knüpfen, doch es schafft eine ungesunde Distanz zwischen Spiel, Spieler und Rezensenten, weil ein Titel nicht mehr mit den eigenen Augen sondern mit denen einer kritischen Masse beleuchtet wird.


Verschobene Wahrnehmung (Quelle)

Dass es überhaupt zu einer solchen Inflation an positiven Bewertungen von Spielen gekommen ist, hat seine Wurzeln vermutlich nicht zuletzt in einer spürbar gestiegenen Erwartungshaltung. Jahrelang generierter Hype führt dazu, dass diese bei Veröffentlichung komplett implodieren kann, wie etwa im bereits angesprochenen Fall von No Man’s Sky geschehen. Dass dieser Titel deutlich positiver von Kritikern aufgenommen wurde als von seinen hochgepeitschten Vorab-Fans, bestätigt einen Trend, der sich so bereits seit 2010 abzeichnet. Es gibt immer weniger Wertungsausreißer, weil man das Jubel-Tamtam nicht ad absurdum führen will, das man schließlich mit befeuert hat, um seine Klicks zu generieren. Parallel dazu häuft sich die Zahl der kritischen Stimmen auf Konsumentenseite, weil sie trotz positiver Zahlen am Ende nicht das Spiel erhalten haben, das sie sich versprochen haben.

Dass Menschen wie Sterling, die ungeachtet des aggressiven Klimas im Chor der Gaming-Glückseligkeit bisweilen auch mal ein wenig schief singen, für ihre Einschätzungen in der aufgezeigten Form angegangen werden, ist bei allem Unverständnis dennoch keine völlig überraschende Konsequenz. Die tatsächliche Meinungsbildung hat längst stattgefunden, wenn der erste Rezensent seine Eindrücke skizziert. Spielerezensionen sind immer seltener ein Mittel der Aufklärung, sie sind vielmehr Grundlage für die Bestätigung der eigenen Meinung geworden. Für den ein oder anderen bricht durchaus eine kleine Welt zusammen, wenn er diese nicht findet. Und genau aus diesem Grund braucht es Menschen wie Sterling, die zu einer dringend benötigten Meinungsvielfalt in einer Branche beitragen, die seit Jahren im Gleichschritt marschiert.

(Jetzt interessiert mich ja schon noch, mit welcher Wertung er die Bioshock-Infinite-Fanboys zur Weißglu… NE FUCKING 10/10?!! Scheiß auf den Typen! Leute, wie funktioniert dieser DDoS-Kram??!)