Gedankenspiele: Über fehlende künstlerische Integrität

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Das ursprüngliche Ende von Mass Effect 3 gehört sicherlich nicht zu den beliebtesten Auflösungen der Videospielhistorie. Es sei der Reihe nicht würdig, es zeige fehlenden Respekt für die treue Fangemeinde, eine ungekannte Enttäuschung eben. Und so kam, was nach heutigen Umständen kommen musste und Entwickler BioWare wurde so lange mit teils grenzwertigen Wutäußerungen und Forderungen bombardiert, dass er sich dazu genötigt sah, das eigentliche Finale zu überarbeiten. Hauptsache es herrschte endlich wieder Ruhe.

Vor wenigen Tagen hat Ubisoft nun eine Scheiden-Textur aus seinem neckischen Hacker-Epos Watch Dogs 2 entfernt, nachdem ein Spieler versehentlich eine Prostituierte ermordet hatte und bemerkte, dass es tatsächlich eine Vagina in Watch Dogs 2 gibt. Wohlgemerkt nur die Textur wurde entfernt, nicht die Möglichkeit, ganz aus Versehen einer Sexarbeiterin die Lebenslichter auszupusten. Das ist schließlich nicht halb so verstörend wie die Ansicht primärer weiblicher Geschlechtsorgane.

Anschließend flatterte noch die Meldung rein, dass abermals Ubisoft eine weitere Scheidentextur entfernt habe. Dieses Mal aus The Division und dieses Mal mit der ganzen Frau, die dran hing, gleich dazu. Diese jammerte und wimmerte im Spiel an einer mit Blumen übersäten Gedenkstätte und vorbeiziehende Avatare mussten diese Zumutung in einem postapokalyptischen, von Gewalt geprägten New York schließlich lang genug ertragen. Das Klagen der trauernden Dame im Spiel ist verstummt, damit das Klagen der Spieler über diese deprimierende Szene ebenfalls aufhören kann. Win-Win, wenn man so will.

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Nun gab es sicher auch vor dem Zeitalter der digitalen Unterhaltungskunst Menschen, die keinen Bock darauf hatten, ewig auf Godot zu warten. Oder die sich für die Mona Lisa ein tieferes Dekolleté und für Michelangelos David einen imposanteren Schniedel gewünscht hätten. Diese armen Kreaturen wurden nie erhört und mussten mit der künstlerischen Vision des jeweiligen Werks leben oder sich eben etwas anderes suchen, das ihren Ansprüchen eher zusagte. Doch haben Spiele überhaupt eine künstlerische Vision, wie man sie anderen Medien zugesteht? Halt, nicht antworten, ich mach das: Ja. Und nein. Ich mein‘… jein.

Titel wie The Beginner’s Guide oder dys4ia dienen nicht der Massenunterhaltung, sondern sind Autorenspiele (nein, da fehlt kein n), die einen Selbstzweck erfüllen. An ihnen wird kein Reddit-Thread und kein Twitter-Rant je etwas ändern können. Spiele wie diese führt man in hitzigen Diskussionen gerne an, wenn man belegen will, dass Spiele ja auch Kunst seien, doch ignoriert man dabei geflissentlich, dass der Schatten einer konsumentenorientierten Branche solch kurz aufflackernde Glanzlichter auf Dauer verschluckt. Das ist gar nicht zwingend etwas Schlechtes, schließlich schreibt Eckart von Hirschhausen auch Bücher, ohne damit das ganze Medium in Verruf zu bringen. Doch sind weder Watch Dogs 2 noch The Division reine Unterhaltungsware, wenn man sich allein deren gesellschaftskritische Unterbauten vergegenwärtigt. Das eine Spiel thematisiert den gläsernen Menschen in einer digitalen Welt, das andere eine Großstadt vor dem gesellschaftlichen Kollaps. Themen, die durchaus unbequem sein könnten.

dys4ia

Muss auch nicht jedem passen: dys4ia

Nimmt man diesen Themen nun die Schärfe, indem alles herausgepatcht wird, was womöglich aneckt oder verstört, nimmt man den Spielen gleichzeitig sämtliche künstlerische Substanz, die unter ihren Kommerzansprüchen verdeckt gelegen haben mag. Entblößte Geschlechtsteile sind sicher nicht die stilvollste Metapher für die zunehmende Transparenz durch soziale Medien und sonstigen Daten-Aggregatoren – vielleicht ist es nicht mal eine – doch zeugt die anschließende Selbstzensur nicht gerade von künstlerischer Integrität. Unbequeme Charaktere zu entfernen, die der Atmosphäre eines in Anomie verfallenen New Yorks die nötige Tiefe verleihen, mag die “Spiele müssen Spaß machen”-Fraktion ruhig stellen, aber es verwischt eben auch sämtliche erkennbare Vision, die The Division zugrunde gelegen haben mag.

Kritikfähigkeit ist ein Wort, das sich in jedem Lebenslauf findet, das aber oftmals falsch ausgelegt wird. Kritikfähig ist man nicht nur, weil man Änderungswünsche berücksichtigt und umsetzt, sondern auch, wenn man kritische Stimmen zwar hört und abwägt, jedoch zu dem Schluss kommt, dass die eigene manchmal die lauteste sein sollte. Wenn Entwicklerinnen und Entwickler ihre kreative Hoheitsmacht veräußern, entsteht am Ende ein verwässertes und inkonsistentes Produkt, das jedweden künstlerischen Wert verliert. Letztlich sind es somit nicht die Spiele selbst, die eine künstlerische, kulturelle oder politische Aussage treffen, sondern das Hofieren einer Spielergemeinschaft, die den Anblick einer Vagina verwerflicher als das wahllose Morden findet und negative Emotionen am liebsten gänzlich ausgeblendet wissen will. Damit sind Videospiele wohl tatsächlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen.