Gedankenspiele: Über persönliche Schicksale in Spielen

Im vorigen Frühjahr erschienen mit That Dragon, Cancer und Hyper Light Drifter zwei beeindruckende Indie-Titel, die unterschiedlicher nicht sein könnten. In ersterem verarbeiteten Amy und Ryan Green die langjährige Krebserkrankung ihres Sohnes Joel, der an den Folgen der Krankheit im Alter von fünf Jahren verstarb. Ein technisch und spielmechanisch sehr reduziertes und ungeschliffenes Spiel, das mich durch seine ungeschönte und sehr direkte Aufarbeitung dieses persönlichen Schicksalsschlags emotional mitnahm wie keines zuvor. Hyper Light Drifter hingegen ließ mich lange Zeit kalt, doch übte seine frostige Aura auch stets eine gewisse Faszination auf mich aus, sodass ich mich vor kurzem endlich auf die Suche nach möglichen Kratzern in dessen makellos glattpolierter Oberfläche machte. Kratzer, die, wie sich herausstellte, unerwartete Parallelen zu That Dragon, Cancer aufweisen, aber auch einen gänzlich unterschiedlichen Ansatz, mit diesen umzugehen.

Alex Preston ist mit einem lebensbedrohlichen Herzfehler zur Welt gekommen. Regelmäßige Krankhausaufenthalte gehören seit jeher zu seinem Alltag, er ist eingeschränkt in der Ausübung körperlicher Aktivitäten und muss sich an einen strengen Ernährungsplan halten. Und auch wenn er sich all den Restriktionen beugt, die sein Zustand einfordert, ist ungewiss, wie lange das Herz seine Arbeit noch ordnungsgemäß verrichten können wird. Preston ist der Lead Designer von Hyper Light Drifter, dessen Protagonist sich auf die Suche nach einem Heilmittel für eine nicht weiter spezifizierte Erkrankung macht, an der er leidet. Immer wieder sehe ich den Drifter, wie er bluthustend innehält, nur um sich im nächsten Moment wieder den Unwägbarkeiten und Gefahren einer zu Ruinen verkommenen Welt entgegenzustellen. Einer Welt, deren Durchquerung ihn in labyrinthische Sackgassen führt, die ihm Kämpfe aufzwingt, die er unabwendbar verlieren muss, damit er nicht vergisst, wie schnell doch alles vorbei sein kann. Selten wirkte eine Spielwelt so verschlossen, so kryptisch und so stumm gegenüber Fragen, die ich an sie richte. Während Ryan Green in That Dragon, Cancer minutiös die Momente nacherzählt, die das kurze Leben mit Joel ausmachten, verhüllt Preston seine Krankheit mit einem Schleier aus Sperrigkeit und Uneindeutigkeit. Als könne er nicht verarbeiten, was noch gar nicht vorbei ist, arbeitet er stattdessen mit seiner Krankheit und lässt mich das gleiche tun.

“Why not put yourself into your art and make it more personal?”

Unter diesem Gesichtspunkt wird deutlich, wie zentral das Thema Selbsterhaltung in Hyper Light Drifter tatsächlich ist. Es wird kein Spielziel kommuniziert, keine Richtung vorgegeben. Ich unterhalte keine Beziehung zu anderen Figuren, die mir Mut zusprechen oder denen etwas an mir gelegen ist. Ich bin allein mit dieser kleinen, umherschwirrenden Maschine, die mir dabei hilft, in einer Welt am Leben zu bleiben, die keine augenscheinlichen Gründe dafür liefert, überhaupt in ihr leben zu wollen. Zu diesem Eindruck trägt auch der recht hoch angesetzte Schwierigkeitsgrad bei. Während That Dragon, Cancer bewusst auf die Möglichkeit eines spielerischen Scheiterns verzichtet und mich an einem eng gesponnenen roten Faden durch seine Momentaufnahmen zieht, lässt mich Hyper Light Drifter orientierungslos, verloren und eingeschüchtert zurück. Während mir beim Nacherleben von Joels Lebensstationen stets bewusst ist, dass die gefühlte Hilflosigkeit nur einen Augenblick verweilt, lässt Preston bei seinem Drifter die Möglichkeit offen, dass sich diese zu einem Dauerzustand ausweitet. In diesen Phasen, in denen ich einfach nicht mehr weiter weiß, offenbaren sich mir plötzlich unsichtbare Pfade, die ich beschreite wie den Weg zur Guillotine. Sie verlängern mein Leben, doch retten können sie es nicht.

“A lot of people say art asks questions, and that always bothered me. Why leave people with just questions?”
(Ryan Green)

Mit Hilfe von Hyper Light Drifter kann Alex Preston einen unangenehmen Part seines Lebens teilen, ohne mir diesen als Spieler aufzuzwingen. Ich muss keinen Gedanken daran verschwenden, welche Parallelen es gibt, ich tue dies nur, weil ich von den Hintergründen gelesen habe. Ohne dieses Wissen wäre das Spiel womöglich nicht mehr als eine technisch brillant bepinselte Leinwand, deren Striche jedoch zu vage und abstrakt geraten sind, um eine buchstäbliche Bedeutung in ihnen ausmachen zu können. That Dragon, Cancer hingegen ist – man möge mir diesen flapsigen Vergleich verzeihen – wie ein nervöser und dringlicher Facebook-Post ganz kurz nach einer schlimmen Tragödie. Es ist aufgewühlt, unsortiert, gespickt mit Flüchtigkeitsfehlern und Ausrufungszeichen, aber eben auch grundehrlich und unmittelbar. Es geht zu keinem Zeitpunkt darum, was andere darüber denken könnten, es ist vielmehr ein Gefühlsausbruch, der nicht mehr zurückgehalten werden kann. Die Greens wollten damit ihrem verstorbenen Sohn ein Denkmal setzen, eine bleibende Erinnerung an ihn kreieren. Alex Preston hingegen wollte etwas künstlerisch Gewaltiges schaffen, das auch getrennt von seiner Person Bestand hat. Die gewählte Intimität des einen hat mich schlussendlich genauso ergriffen wie die metaphorische Abschottung des anderen. Weil beides zeigt, wie unterschiedlich Menschen mit Kummer und Schmerz umgehen, aber vor allem, weil sie sich überhaupt damit auseinandersetzen, statt an ihrem Leid zu ersticken.

Was unter dem Strich zurückbleibt, ist das menschliche Element, das ich bei so vielen anderen Titeln vermisse. Das mir aber auch gleichermaßen bei der Besprechung von Spielen fehlt. Wer immer nur mit kritischer Distanz auf Werke dieser Art blickt, traut sich nur nicht, ihnen direkt in die Augen zu schauen. Wer beim Spielen nicht mehr fühlen will als die Vibrationsfunktion seines Controllers, nimmt sich damit selbst die Möglichkeit, auf Wahrhaftigkeit in all diesen unwirklichen Welten zu stoßen. Auch viele Entwicklerinnen und Entwickler müssen es erst noch lernen, in ihren Spielen bisweilen mehr Raum für sich und ihre eigene Geschichten und Ansichten zu schaffen. Es ist ein gemeinsamer Lernprozess, an dem alle Beteiligten wachsen können. Und somit letztlich auch das Medium an sich.


Wenn ihr weitere Beispieltitel kennt, die einen sehr persönlichen Bezug zu ihren Entwicklerinnen und Entwicklern haben, würde ich mich darüber freuen, wenn ihr diese in den Kommentaren teilt. Ebenso Artikel, die sich vornehmlich über eine sehr personenbezogene Auseinandersetzung mit Spielen definieren. Alle anderen Gedanken zum Thema sind jedoch nicht minder willkommen.