Blast from the Past: Far Cry
Meine Kindheit war, was Spiele anging, eine geborgte. Bei uns zu Hause gab es lange keine Konsole. Der PC stand im Büro meines Vaters und hatte trotz seiner guten Hardware den Titel „Arbeitsrechner“, so dass meine Leidenschaft für die Pixelwelten lange Zeit auf Nachmittage bei Freunden und Magazine limitiert war.
Ändern sollte sich das erst 2002. In der siebten Klasse mussten wir uns für die Schule einen Laptop anschaffen. Das brachte die Spielererfahrung natürlich voran: Zunächst wurden netzwerktaugliche Minispiele für den Mathe-Unterricht ausgetauscht, dann setzten sich Counter-Strike und Konsorten in den Mittagspausen durch. Endlich hatte ich den Schlüssel zu all den anderen Welten, die mich vorher schon fasziniert hatten, in meiner Hand (*Hände – das Ding war schwer und groß und langsam). Ich konsumierte so viele Spiele, wie ich konnte. Die, die mein Laptop nicht schaffte, wurden in Reviews, die es damals in der Zeit vor YouTube-Lets-Playern noch auf DVD in Spielemagazinen gab, zumindest betrachtet, bewertet und angeschmachtet (etwas später z.B. Joint Ops – was hätte ich dafür alles getan).
Im Frühjahr 2004 überreichte mir mein bester Freund dann eines Tages meinen persönlichen heiligen Gral: Far Cry. Ein Shooter. Mit Story! In hübsch! Die traurige, erste Erkenntnis: Der Schul-Laptop schaffte das ganz sicher nicht.
Far Cry setzte damals Maßstäbe und das nicht nur für unbedarfte Spieler wie mich, für die jede Spielerfahrung aus erster Hand eine Offenbarung an sich war. Das kleine deutsche Entwicklerstudio Crytek landete mit ihrem ersten Spiel einen beeindruckenden Erfolg. Es regnete gute Bewertungen. Kein Spiel hatte bislang solch eine Grafik präsentiert. Bei dem Spiel wurde die eigens entwickelte CryEngine eingesetzt, die eine überraschende Sichtweite ermöglichte und erstaunlichen Detailreichtum bot. Der Dschungel sah nach Dschungel aus und das Wasser nach Wasser. Nicht ein Grün- und ein Blauton und das wars dann. Das Leveldesign tat sein Übriges, um den Spieler gänzlich in die Welt zu ziehen. Die Missionen konnten regelmäßig von unterschiedlichen Standpunkten aus angegangen werden und im Großen und Ganzen konnte man sich außerhalb der Gebäude-Abschnitte frei bewegen. Die Welt erschien dadurch realistischer und freier als in Shootern dieser Zeit üblich. Selbst die Story war trotz des Genres überraschend präsent, wenn auch simpel. Kurz: Inselurlaub mit Raketenwerfer.
Obwohl ich versuchte, meinen Eltern verständlich zu machen, was für einen Schatz ich da heimgebracht hatte, konnte ich nicht mehr als ein Wochenende am PC meines Vaters herausschlagen. Ein Wochenende für das ganz große Ding des Spielejahres 2004. Aber ich nahm, was ich kriegen konnte.
Am ersten Tag waren die Spielegötter mir gnädig und meine Eltern ließen mich ohne größere Unterbrechungen die Geheimnisse um die Krieger Corporation erforschen. Mit dem Protagonisten Jack Carver, natürlich ehemaliger Elite-Soldat der US Marines und der coolste Kerl unter der unfassbar hübschen Sonne, versuchte ich die Jungfrau in Nöten Valerie Constantine, ihres Zeichens Journalistin, zu retten. Zu recht, immerhin hatte Jack die Holde auf der Insel abgesetzt und sollte für ihre Sicherheit sorgen. Bei ihren Nachforschungen war Val jedoch gefasst worden und die Söldner der Krieger Corporation hatten unser Boot in die Luft gejagt. Da hört der relevante Story-Teil dann auch schon auf und es kommt noch ein wenig DNA-Gebastel und Mutanten-Wirrwarr hinzu.
Zu Beginn befindet man sich in einem alten Bunker, der seine besten Zeiten schon hinter sich hat. Die Wände sind teilweise eingestürzt und überall steht das Wasser. Bereits hier zeigte sich, was die CryEngine leisten konnte. Die Wände sind überwachsen von Moos, das nicht nur durch einen grünen Schatten dargestellt wird. Die Geländer schuppen sich vom Rost. Durch Löcher in den Decken fällt das Licht auf die Algen im Wasser. Nach wenigen Metern erlaubt Crytek einen ersten Blick auf das Inselparadies. Obwohl man nur aus einem Durchbruch in der Bunkerwand blickt, zeigt sich die Welt bereits sehr detailreich. Die Palmen bewegen sich leicht, die Lichtreflexe auf dem Meer wirken dynamisch. Kurz danach hört man, wie sich zwei Söldner über den “Idioten im roten Hawaiihemd” unterhalten, der möglichst schnell zu finden sei. Na gut, dass wir nicht willkommen sind, hätten wir uns spätestens nach der Panzerfaustattacke auf unser Boot denken können.
Nach dieser kurzen Tutorialsequenz, in der wir außerdem unseren unbekannten “Helfer” Harlan Doyle via Pocket PC treffen, treten wir nun hinaus in die Welt und versuchen einen Weg von der Insel zu finden. Dies war der Moment, in dem mich das Spiel bereits nachhaltig beeindruckte – so sehr, dass ich meinen besten Freund anrief: „Hast du die Sonne gesehen? Da waren richtige Spiegelungen auf dem Meer! Ich bin da einfach nur hoch und dann – hast du gesehen, wie weit man schauen kann?! Da sind Texturen auf dem verdammten Felsen dahinten! Hast. Du. Die. Sonne. Auf. Dem. Meer. Gesehen?!“
Optisch gesehen ein weiterer Höhepunkt war der Flug mit dem Hanggleiter über den Dschungel. Natürlich hätte man sich auch durch eben diesen schleichen oder kämpfen können, aber bei so einer Aussicht nicht zu fliegen, wäre auch irgendwie Blasphemie. Neben der Grafik überzeugte mich vor allem die Physik. Meiner Erfahrung nach schien es Entwickler regelmäßig zu überraschen, dass Druckwellen sich auf die Umgebung auswirken sollten, ein Körper im Wasser Wellen verursacht und wenn man gegen Hecken fährt, diese bitte zumindest irgendwie reagieren könnten. Crytek hatte allerdings im Unterricht aufgepasst und (fast) alles richtig gemacht.
Am Abend ging ich beseelt von meinem Heroismus ins Bett und freute mich auf den zweiten Tag meines ersten richtigen Zockerwochenendes. Wie selbstlos ich mich doch um die arme Val kümmerte, der bösen Krieger Corporation das Handwerk legte und wie verdammt schön dabei alles aussah. Die Sonntagmorgen, an denen ich in meinem bisherigen Leben freiwillig zu einer einstelligen Uhrzeit aufgestanden bin, lassen sich an einer Hand abzählen und dieser folgende gehörte dazu. Dann jedoch die Katastrophe: Aus einem mir noch immer unerfindlichen Grund startete das Spiel nicht mehr.
Far Cry, den Titel, von dem ich heute noch jedem auf Partys nach den ersten zwei bis vier Bier erzähle (an alle Betroffenen: es tut mir wirklich leid – aber habt Ihr die Sonne auf diesem Meer gesehen?), sollte ich durch diesen Schicksalsschlag nicht durchspielen können. Von den zwanzig großen, überraschend offenen Leveln hatte ich vielleicht die Hälfte geschafft, wenn überhaupt. Gamer-Trauma vom Feinsten.
Zum Glück gibt es ja auch für Spielkinder immer mal wieder Sales, sodass ich im letzten Sommer noch mal auf die Inseln der Krieger Corporation zurückkehren konnte. Die Sonne auf dem Meer, an die ich mich auch heute immer noch besser erinnere als an meinen ungefähr zeitgleich erfolgten ersten Kuss, war noch ganze 2,46 Euro wert.
Ich nötigte meinen damaligen Freund, der gerade – ebenfalls dank Sale – Far Cry 3 spielte, sich daneben zu setzen, um ja nicht die verdammte Sonne auf diesem verdammt hübschen Meer zu verpassen, von der ich immer erzählte. Ich warnte meinen besten Freund, dass er sich, wie schon gut zehn Jahre zuvor, auf euphorietrunkene Nachrichten einstellen sollte. Und ich spielte Far Cry. Der Kommentar des genötigten Zuschauers lautete: „Und was ist hieran jetzt so besonders?“ Ich muss leider gestehen, dass die „Sonne trifft Meer“-Szene an Eindruck verloren hatte. Zuerst war ich mir nicht einmal sicher, ob ich für den richtigen Blick nicht vielleicht doch noch um eine Ecke mehr gehen müsste…
Die Grafik, die damals tatsächlich bahnbrechend war, wirkt nun offensichtlich künstlich, da die Farben doch ein wenig an Plastikspielzeug erinnern. Die Texturen in der Ferne würden heute wohl kaum noch Erwähnung finden. Die Spielmechanik ist weiterhin solide und der Rhythmus des Spiels überraschend aktuell, aber das große Spiel des Jahres 2004 wurde von seinen jüngsten Nachfolgern meilenweit abgehängt. Der zweite Anlauf wurde daher schnell zur Pflichtübung und ich legte der Krieger Corporation mehr aus von 2004 übrig gebliebenem Verantwortungsgefühl als aus Überzeugung das Handwerk.
Allein schon die Geschichte des Originals kann etwa mit einem Antagonisten wie Vaas Montenegro nicht mithalten. Dr. Krieger, der Endgegner des Original Far Crys, ist letztlich nur wieder einer dieser mutantenzüchtenden, durchgedrehten Forscher, die sich für ihre Machenschaften eine Insel im Nirgendwo des Südpazifiks und eine Handvoll Söldner gepachtet haben. Das höhere Ziel sei natürlich die Zukunft der Menschheit. Wer die Mutanten aus Far Cry (die sog. Trigene) nicht kennt, stelle sich ein paar zu groß geratene, übellaunige Nacktmulche vor. Diese hatten wahlweise Spaß mit Affen oder Menschen und das Ergebnis ist dann ein Trigen. Trigene sind gerade in den späteren Missionen wirklich unangenehm und man freut sich fast über die prolligen Söldner mit ihren tumben Sprüchen (die man interessanterweise mit seinem Fernglas belauschen kann und aus guten Gründen auch sollte).
Die kurzen Gesprächsfetzen der Söldner waren tatsächlich teilweise sehr amüsant. Auch das klassische Far Cry hatte hier bereits einen erfrischend spitzen Humor, allerdings standen letztlich weder die Charaktere noch die Geschichte im Vordergrund. Das Besondere des Spiels war tatsächlich die Grafik. Far Cry ist daher zwar noch immer ein Shooter, der sich für ein entspanntes Schwelgen in Spielehistorie anbietet, aber ansonsten auf seinem Platz als „Sammlerstück/Meilenstein“ gut aufgehoben ist. Kaum ein anderes Spiel hätte allerdings damals meine Spielleidenschaft so gut auf das nächste Level heben können. Ich hatte gute Geschichten gesehen, ich hatte kurzweiligen Spaß gehabt – nun hatte ich die Schönheit der Vorstellungskraft von Entwicklern gesehen. Ich freute mich darauf, was für Welten mich noch erwarten würden. Egal wie weit es von der Wirklichkeit entfernt war, nun war ich überzeugt, dass jemand es visualisieren können würde und wollte „dabei sein“.
Jack Carver und ich, wir waren Helden für eine kurze Weile, aber seitdem ist viel Zeit vergangen und wir sind beide mehr oder minder gut gealtert. Seitdem habe ich Drachen getötet. Ich habe Sith Lords besiegt. Ich bin mit Fallschirmen von Hochhäusern gesprungen oder ohne Sinn und Verstand in Jerusalem herum geklettert. Dennoch: Wenn ich auf der nächsten Party gefragt werde, warum ich eigentlich zocke, wird meine Antwort wohl wieder lauten: „Sag mal, hast du damals am Anfang von Far Cry, wenn du da aus diesem Bunker kommst, die Sonne auf dem Meer gesehen?“
In der Serie Blast from the Past berichten Superlevel-Autorinnen und -Autoren sowie geladene Gäste über prägende Spiele und Spielerlebnisse aus der Kindheit und Jugend.
Dass Frauen eigentlich doch ganz einfach gestrickt sind, zeigen Wibke Weigls drei Grundbedürfnisse: Film, Schokolade und Computerspiele. Gegen das Gerücht vom höheren Redebedarf lässt sich nun jedoch, da sie diesen nicht nur auf Twitter und Instagram, sondern auch noch bei Superlevel auslebt, wohl nichts mehr einwenden.