Manno, das will ich auch: Das neue Anno.
Selten ergibt sich die Möglichkeit, so voreingenommen über ein Spiel zu berichten wie über eines aus der Anno-Reihe. Die Voreingenommenheit entsteht ganz einfach aus der langjährigen Spielerfahrung mit vorhergehenden Titeln und selbst wenn man sich mit aller Kraft dagegen stemmt, das neue Anno 2205 wird bei der Betrachtung nie für sich stehen können. Zu lang ist die Ahnenreihe, zu groß sind die Erwartungen. Konkret beleuchtet bezieht sich meine Voreingenommenheit auf Anno 1404. Der Titel erschien 2009 und war für mich das beste Spiel aller Zeiten. Natürlich darf sich Anno 1404 diesen Titel mit ein paar anderen besten Spielen aller Zeiten wie Fallout 3 oder The Walking Dead teilen, so exklusiv ist dieser Superlativ dann doch nicht.
Die Schwierigkeit wird nun hoffentlich klar: Wie kann sich ein Nachfolger des besten Spieles aller Zeiten mit dem Vorgänger messen? Ist dieser Nachfolger nicht automatisch zum Scheitern verurteilt? Ja in der Tat. So ist es dann auch bei Anno 2070 geschehen. 2070 erschien zwei Jahre später und behielt den Großteil der tollen Mechaniken aus 1404 bei, aber versetzte das Geschehen in die Zukunft, sponn ein wenig Konzernklüngelei hinzu und machte das auf eine für mich relativ uncharmante, eher abschreckende Art. Es war ein gutes Spiel und laut Creative Director Dirk Rieger sogar der sich am besten verkaufende Anno-Titel. Gegen den Orient-Charme eines 1404 und den perfekten Aufbauteil hatte es bei mir allerdings keine Chance. Ich spielte die Kampagne von 2070 pflichtbewusst runter, aber zu längeren und ausufernden Baumaßnahmen und Weltherrschafts-Ambitionen hat es leider nicht gereicht.
Seit heute, dem 3. November 2015, ist nun endlich das neue Anno 2205 erhältlich. Die Planke auf dem Cover ist dem neuen Logo gewichen, die Quersumme blieb 9 und die Skepsis war riesig. Mir stellte sich die Frage, ob Anno 2205 einerseits den Charme und die perfekten Mechaniken von 1404 beibehalten und das Abgeklärte von 2070 hinter sich lassen kann? In dieser Review bitte nicht gleich nach unten zum Fazit scrollen, denn das folgt jetzt einfach hier im Fließtext: Ja, Anno 2205 kann das.
Zunächst ein paar schnöde Fakten: Anno 2205 verabschiedet sich vom Kampagnen-Modus und ersetzt viele kleine Kampagnen durch ein riesiges Szenario, in dem ich in Sandkasten-Manier herumtoben, Quests abschließen und bauen kann. Innerhalb dieses Szenarios gibt es verschiedene Sektoren, die ich während meiner Entwicklung zum Supermogul einnehmen kann und muss. Zunächst die gemäßigte Zone, dann folgt die Arktis und schlussendlich der Mond, der dank des Baus eines Weltraumfahrstuhls wertvolle Rohstoffe an die Erde liefern kann.
Alle drei Zonen bieten unterschiedliche Herausforderungen und erfordern andere Baustrategien. In der gemäßigten Zone ist beinahe alles wie gehabt. In der Arktis muss ich meine Bewohner mit Wärme versorgen, die nur durch Betriebe abgestrahlt wird, was bedeutet, dass ich meine Betriebe zwischen die Häuser bauen muss. Auf dem Mond wiederum fehlt die Atmosphäre, so dass kleinste Staubpartikel und Meteoriten ziemlich wild herumwüten könnten, wenn ich nicht alles unter eine Schutzkuppel bauen würde. Zudem habe ich auf dem Mond mit Geldproblemen zu kämpfen, denn der Preis eines Häuschens in einem Mondkrater würde jeden Münchener Immobilienmakler vor Neid erblassen lassen. Alle Sektoren beeinflussen sich gegenseitig, werden im Hintergrund weiterberechnet und um aufzusteigen, benötige ich Produkte aus jeder dieser Klimazonen. Als 4. Sektor lässt sich der neue, optionale Kampfsektor bezeichnen, in dem ich dank Schiffsflotte meinem Anno-Antagonisten einen Torpedo vor den Bug schießen darf. Alle Rohstoffe dieser Kampfsektoren lassen sich auch auf andere Weise erwirtschaften, weswegen das für gemütliche Städtlebauer auch ignoriert werden darf.
Es folgt ein weiterer Schock: kein Dorfzentrum. Ja richtig, gar keines! Weder ein kleines, noch ein großes und somit auch kein Bauradius, in dem man seine Bewohner indirekt ansiedeln kann. Geradezu unheimlich, wenn man seine Häuschen einfach so in die Landschaft setzt und lediglich noch eine Straße benötigt wird. Für Außenstehende mag das Fehlen des Dorfzentrums lächerlich wirken, für Anno-Spieler machte es seit Anbeginn der Zeit, also Anno 1602, den spielerischen Mittelpunkt aus. Ich habe einen Radius und nur in diesem darf ich bauen. Tschüss Tradition, hallo Neuerung: Entscheidend ist jetzt nicht mehr das Dorfzentrum, sondern ein gelungenes Straßennetzwerk, das möglichst wenig des Rohstoffs “Logistik” verbraucht. Dieser wird durch ein paar umherfahrende Laster symbolisiert und erneuert damit auch das alte System der Lagerhäuser. Entscheidend ist jetzt nicht mehr der Lagerhausradius, sondern die Anzahl der zur Verfügung stehenden Lastwagen. Je weiter ein Betrieb vom nächsten Lagerhaus entfernt ist, umso länger fahren die Lastwagen und umso mehr “Logistik” wird verbraucht. Logisch? Eigentlich schon und dabei auch stimmig umgesetzt, denn anhand der Farbe einer Straße kann ich erkennen, wie gut diese mit Logistik versorgt wird. Als Anno-Vorgeschädigte musste ich mich aber tatsächlich erst daran gewöhnen und diesen Traditionsbruch verkraften. Glücklicherweise ging das erstaunlich schnell, denn der Sandkastenmodus macht es mir sehr einfach, mir für alles viel Zeit zu nehmen und auszuprobieren. Auf dem leichtesten Schwierigkeitsgrad lassen sich Gebäude auch ohne Kosten umherschieben, so dass ich einfach immer wieder ausprobieren konnte, wie welches Gebäude wo am besten zu stehen hat. Für Freunde der gepflegten Optimierung ein Fest!
Optimierung ist hierbei das für mich alles bestimmende und deswegen auch leicht süchtig machende Merkmal dieses Anno-Titels: Jede Siedlung und jede Produktionskette darf und muss nach Herzenslust zu kapitalistischer Höchstproduktivität optimiert werden. Dafür sorgen zum einen Module und zum anderen eine ausführliche Statistik. Module bedeutet hier, dass ich jeden Betrieb mit Erweiterungen versehen und mit diesen verbessern kann. Statt 5 Stück Bionahrung kann ich jetzt zum Beispiel dank eines zusätzlichen Produktionsmoduls 10 Stück Bionahrung herstellen, das kostet mich aber nur 75% eines neuen Betriebs. Seine Betriebe modular zu erweitern, ist demnach wesentlich effizienter, als einen neuen Betrieb nach dem anderen auf dem Boden zu stampfen. Da diese Module in der Spielwelt sichtbar sind und so aus einem kleinen Reisfeld plötzlich ein riesiges Industriegebiet mit sehr viel mehr Reis geworden ist, kann ich also nicht nur sehen wie meine Stadt sich entwickelt, sondern auch, wie meine Betriebe stetig wachsen. Und ja, dieser Anblick ist verdammt befriedigend. Der zweite Antrieb ist die Statistik, denn nun wird es mir ermöglicht, exakt den Warenein- und Ausgang meiner Produktionsstätten nachzuvollziehen. Ich sehe, wieviel in einem bestimmten Betrieb verbraucht wird, wieviel ich produziere und bei Bedarf schaue ich nach, ob meine Zulieferbetriebe auch genug herstellen können. Früher durfte man das etwas mühselig mit der Zeit durch Lagerbeobachtungen herausfinden oder in einem Lösungsbuch herauslesen, jetzt ist das auf einen Blick ersichtlich. Optimal ist nur eine sehr geringe Überproduktion, bei Bedarf sogar eine leichte Unterproduktion, da mich die Kosten sonst als nette Unternehmerin von nebenan gerne auffressen. Somit ganz im Sinne des klassischen Rechnungswesens handeln: Lagerkosten so gering wie möglich halten.
Dann fange ich also an zu verbessern, auszubauen, ein wenig herumzupositionieren und ehe ich mich versehe, erinnert mich Anno nach zwei Stunden freundlich, vielleicht mal ein kleines Päuschen einzulegen. Ohne eine Zwangsneurose allzu verharmlosen zu wollen: hier ließe sie sich wunderbar ausleben. Feintuning wartet an allen Ecken und Küsten. Zu den Konventionen des Aufbau-Genres gehören noch liebevolle Details, charmante Figürchen, ausgearbeitete Betriebe und ein Zoom direkt ins Sonnenblumenfeld. 10/10. Der Sound ist stimmig und sorgt besonders auf dem Mond für eine unheimliche Atmosphäre. Zur Gruselstimmung tragen natürlich auch die Preise auf dem Mond bei, aber das Thema hatten wir ja bereits.
Für mich als gemütliche Aufbau-Simulantin, deren Schwerpunkt stehts auf Profit! Profit! Profit! liegt, war trotz allem sogar der Kampfaspekt der Kriegssektoren interessant. Der Schwierigkeitsgrad lässt sich dort nach Belieben auf “Haha Noob” runterregulieren, was mir aber weniger Belohnungen zuteil werden ließ. Zumindest, sofern man unter Belohnungen nur die seltenen Rohstoffe versteht und nicht auch die Freude daran, ein gegnerisches U-Boot mit einem gezielten Treffer auf den Meeresgrund zu verfrachten. Ein wenig gewöhnungsbedürftig sind allerdings die Ladezeiten zwischen den einzelnen Sektoren. Jedoch empfand ich diese nur am Anfang als störend, später fielen sie nicht mehr auf.
Möglicherweise liest sich das hier nach Schnappatmung und dem Versuch, ein Spiel an den Mann oder die Frau zu bringen. Sehr wahr. Ein Spiel, das mir die Freude am Aufbau wiedergibt, dabei nicht 1404 ist, sondern etwas Neues, mit gut durchdachten Mechaniken und liebevollem Setting? Uhhh ja! Übrigens ist es auch erfrischend bug- und absturzfrei, was dieser Tage besonders bei AAA-Titeln leider extra erwähnt werden muss. Ich nennE nAtürlich keine Namen. Wermutstropfen: Tundra-DLC und ein Season-Pass sind bereits angekündigt. Season-Pass ist ein Konzept, dem ich vermutlich auf ewig Unverständnis entgegenbringen werde.
Nun, meine anfängliche Skepsis aufgrund des erneuten Zukunftsszenarios ist ziemlich großer Begeisterung gewichen. Der große Sandkasten, die ständigen Erweiterungen, die verschiedenen Strategien in der jeweiligen Klimaregionen, kombiniert mit hübscher Spielwelt und der Möglichkeit, bis ins Unendliche und noch viel weiter zu bauen, lassen mein Herz ein wenig höher hüpfen. Ich hätte das nie für möglich gehalten, aber Anno 2205 ist tatsächlich ganz anders als Anno 1404 und trotzdem unfassbar gut.