Wenn dein eigenes Haus nicht mehr sicher ist,
wohin kannst du dann noch gehen?
Die psychischen Folgen eines Einbruchs sind oft größer als die Materiellen, denn schon das Wissen, dass ein Fremder in der eigenen Wohnung war, kann das Verhältnis zu dieser nachhaltig beschädigen. Der Eindringling ist weg, aber die Angst bleibt: Wenn der eigene Rückzugsort einmal nicht sicher war, wie soll ihm dann zukünftig noch vertraut werden können? ANATOMY ist ein Spiel über so ein Haus, das keine Sicherheit mehr bietet.
Wie viele Horrorspiele beginnt ANATOMY in einem leeren, düsteren Flur. Um Spielende in die alles verschlingende Dunkelheit zu locken, sind im Haus Kassetten verteilt, die eingesammelt werden müssen, bevor sich die Tür zum nächsten Raum öffnet. Auf den Bändern ist eine Stimme zu hören, die Parallelen zwischen einem Haus und dem menschlichen Körper zieht: Küche und Bad sind der Verdauungstrakt, der Keller symbolisiert ein Unterbewusstsein voll verdrängter Erinnerungen, Flure sind Adern und das Treppenhaus die Wirbelsäule.
Von Resident Evil bis Gone Home waren verlassene Gebäude stets ein beliebtes Klischee des Horrorspiels. Ein unbewohntes Haus hat etwas Unnatürliches, die Abwesenheit von Leben etwas Beunruhigendes. “Haus” stammt vom Wort “Schutz” ab, es steht für Stabilität und Sicherheit. Viele Spiele erzeugen Angst, indem sie diese Bedeutung ins Gegenteil verdrehen.
Die Verkehrung des Hauses in eine schreckliche, körperliche Gefahr hat eine gewisse Tradition, sei es bei Pinocchio, der vom Wal Monstro lebendig verschluckt wird oder in Metal Gear Solid 2, das seine letzten Spielabschnitte nach Teilen des Verdauungstrakts benennt, Spielende konsumiert und letztendlich ausscheidet. Auch ANATOMY weckt mit seiner verwinkelten Architektur die Befürchtung, dass das Haus nicht nur Monster in seinen dunklen Ecken verbirgt, sondern selbst eines ist.
Trotz der für ein Videospiel typischen, übergroßen Proportionen von Türen und Fluren und der blockigen Architektur greift die Körper-Metapher, mit der Entwicklerin Kitty Horrorshow so offen spielt. ANATOMY ist psychologischer Body Horror, ohne einen einzigen entstellten Körper zu zeigen. Vielmehr fußt der Horror auf dem Gedanken, seiner eigenen Wahrnehmung niemals ganz trauen zu können – dass wir uns nie sicher sein können, im Schlaf nicht von einem Monster beobachtet zu werden.
Um die vielen Schichten von ANATOMY offenzulegen, bedarf es mehrere Anläufe der knapp viertelstündigen Suche nach den im Haus verteilten Kassetten. Mit jedem Start des Spiels verschiebt sich auch die Bedeutung der Metapher ein wenig weiter, verändert sich das Spiel in der Abwesenheit des Spielers. Wie schon bei anderen Titeln von Kitty Horrorshow liegt die Bedeutung nicht ausschließlich im Spiel selbst, sondern ragt bis in die Dateinamen im Programmverzeichnis und sogar über die vierte Wand des Monitors hinaus.
Es ist weniger eine Aussage als mehr eine Wirkung, die ANATOMY mit seiner Metapher des körperlichen Hauses entfaltet. Auf die eigenen Sinne ist ebenso wenig Verlass, wie auf Erinnerungen. Sie sind stets mangelhaft, unvollständig und verzerrt, ganz egal ob analog oder digital archiviert. Die Art, wie ANATOMY dieses Misstrauen vermittelt (ohne an dieser Stelle zu viel vorwegzunehmen) nutzt auf einzigartige Weise die Möglichkeiten eines Videospiels. Es zeigt keine Gespenster oder erzählt eine Gruselgeschichte, sondern hinterlässt ein tiefes Gefühl der Verunsicherung im Kopf der Spielenden, indem es sich selbst als flüchtige und unzuverlässige Quelle inszeniert.
Nach dem zweiten “Durchspielen” von ANATOMY benötigte ich eine Weile, um wieder in meiner eigenen Realität anzukommen. Erst ein Spaziergang durch die hell erleuchteten Straßen der Stadt beruhigte mich so weit, dass ich wieder in die plötzlich klaustrophobisch wirkenden vier Wände meiner Wohnung zurückkehren konnte. Bis ich nicht mehr das Gefühl hatte, die zuckenden Linien eines ausgeleierten VHS-Videos hätten sich über den Bildschirm hinaus direkt auf meine Augen übertragen. Bis ich nicht mehr beim Knarzen des Altbaugemäuers paranoid zusammenzuckte. Um mich sicher zu fühlen. Um aus meiner Haut zu kommen.
ANTOMY wirkt wie ein weiteres Horrorspiel, ein weiteres Hexenhaus voller Springteufel. Aber ein Horrorspiel isoliert die Angst, fängt sie ein und macht sie zu Adrenalin-pumpender Unterhaltung. ANATOMY erreicht etwas anderes. Es nutzt die Zeit im Spiel, um eine Angst zu konstruieren, die erst nach dem Beenden der Software zu Wirken beginnt. Es ist eine Subversion des gesamten Genres “Horror” und seiner fein säuberlich von der realen Welt isolierten Kammer des Schreckens, die sich einfach wieder verschließen lässt. ANATOMY lässt sich nicht schließen, auch wenn das Programm schon beendet wurde.