Blast from the Past – Super Mario World 2: Yoshi's Island
Mitte der Neunziger habe ich das Speedrunning erfunden. Das wirkt heute wie eine schamlose Übertreibung und ist tatsächlich eine dreiste Lüge, aber ich war damals höchsten zehn Jahre alt, immens von mir selbst überzeugt und in meinem Dorf gab es zwar viele Kühe, aber keine davon war Speedrunner oder hatte einen Internetanschluss. Ziel meiner Rekordversuche war damals Super Mario Land auf dem Familien-GameBoy. Ich hätte mir meine Bestzeiten vielleicht aufschreiben sollen, denn sie wollen mir heute partout nicht mehr einfallen. Weil es aber keine echte, kompetitive Szene zu geben scheint, war ich vielleicht wirklich einer der besseren Spieler.
Super Mario Land war mein erster Plattformer von Nintendo, vielleicht sogar mein erster Plattformer und mein erstes Spiel von Nintendo überhaupt — ich kann es nicht mehr sagen. Es war sehr lange mein liebstes Videospiel, selbst als das SNES in mein Leben trat. Das war nicht zu dessen Erscheinen, ich bringe also meine Glaubwürdigkeit in Sachen Videospiele in Gefahr und gebe zu, nie Super Mario World gespielt zu haben. Wir hatten zwar Super Mario All-Stars, ein paar ältere werden sich erinnern, aber wirklich begeistern konnte es mich nicht. Ich plattformte also weiter durch die verschrobene Welt von Super Mario Land, mit ihren Riesenspinnen, Vampirchinesen und außerirdischen Invasoren.
Und dann kam Yoshi’s Island.
Heute würde ich es wahrscheinlich für seine ausgezeichnete Grafik loben, die witzigen Ideen herausstellen, irgendwelche Floskeln wie „voller Phantasie“ verwenden … damals war das Spiel bunt und laut und ein niedliches Baby ritt auf einem grünen Dinosaurier über flauschige Hügel und puffigen Schnee. Ich vermute, als ich das Spiel zum ersten Mal startete, wehten meine Haare im Wind, meine Umrisse wurden in die Wand hinter mir gebrannt und hätte ich damals schon eine Brille getragen, ihre Gläser wären explodiert. Davon bekam ich natürlich nichts mit, ich war voll konzentriert darauf, jeden meiner Sinne auf das Spiel zu fokussieren, völlig zu versinken in dieser Welt aus Farben und Musik und Flattergeräuschen.
Yoshi’s Island war so etwas wie eine Offenbarung für mich. Das klingt sehr pathetisch, ist aber die Wahrheit. Ich war den monotonen Gesamteindruck des GameBoys und das abgehackte Gedudel eines damals schon ziemlich altersschwachen Computers gewöhnt — und statt mich langsam an neue Erfahrungen heranzutasten, warf ich mich selbst ins eiskalte, quietschbunte Wasser um Yoshi’s Island. Es war besser als draußen spielen, es war besser als Pokémon, es war besser als die ganze Welt. Ich ließ nicht mehr davon ab, spielte in jeder freien Sekunde. Ehrlich gesagt war ich ziemlich schlecht darin, aber ich wurde besser und kämpfte mich durch das Spiel, jeder Level ein neues Feuerwerk, abgebrannt auf meiner Netzhaut und in meinen Ohren. Mir tun diese ganzen, übertrieben schlechten Symbole selbst etwas leid, deshalb fasse ich einfach zusammen: Ich war ziemlich beeindruckt.
Doch auch Yohi’s Island war ein Mal vorbei. Nachdem ich viel Zeit damit verbrachte, am Endgegnern zu scheitern, weil ich noch nicht vollständig in der Lage war, den Pseudo-3D-Effekt zu verstehen, fand ich schließlich den Storch, befreite Baby-Luigi und das Spiel sagte mir, ich hätte es jetzt gewonnen. Wie ein Sieger fühlte ich mich aber nicht, hatte ich doch gerade das schönste Videospiel meines Lebens hinter mir gelassen. Ich wollte noch nicht damit fertig sein, also fing ich an, meine Lieblingslevel immer und immer wieder zu spielen. Und dann entdeckte ich, dass es mir ein gutes Gefühl zwischen Hals und Bauchnabel verschafft, wenn am Ende des Levels die Fanfare ertönt, die mir signalisiert, dass ich ihn zu 100% abgeschlossen habe. Also setzte ich mir ein neues Ziel.
Es klingt ein bisschen verrückt, heute, wo ich mich bei jedem zweiten Spiel darüber beschwere, es gäbe zu viele bescheuerte Sammelgegenstände, aber in Yoshi’s Island war es mir jede Sekunde wert, alle Blumen und Münzen zu sammeln. Wahrscheinlich war es dauerhaft ungesund, wie lange und ausdauernd ich ein einziges Spiel spielte. Bis heute sind alle Musikstücke mein andauernder Ohrwurm. Die Geräusche von abprallenden Eiern und fahrenden Plattformen verfolgen mich bis in meine Träume. Und geht weg mit dem Gepiepse in Zelda, der schreiende Baby-Mario ist viel nervenaufreibender.
Ich weiß nicht mehr richtig, wie ich jemals wieder von diesem Trip heruntergekommen bin. Vermutlich war es Lufia, das ich von meinem eigenen Geld einem Klassenkameraden meines Bruders abkaufte, nachdem er es uns geliehen hatte und wieder einforderte – wahrscheinlich ein geschickter, kaufmännischer Schachzug. Natürlich habe ich mein Ziel irgendwann erreicht: Alle Blumen sind gesammelt, alle roten Münzen entdeckt und jeder Level perfekt abgeschlossen. Ab und zu überkommt es mich immer noch, zurück auf die bunte Insel mit ihren Dinosaurieren zu wollen. Sie ist mir mittlerweile vertrauter als mein eigenes Wohnzimmer. Vielleicht stoße ich mir im Dunkeln noch ab und zu den Zeh am Sofa, den schnellsten Weg vom Start zum Checkpoint finde ich aber blind. Es ist, als würde ich ein Fotoalbum durchblättern und mich an den schönen Erinnerungen erfreuen, wenn meine Finger fast schon auf Autopilot die Knöpfe drücken und ich durch die Level rase.
Vielleicht habe ich das Speedrunning ja tatsächlich erfunden und nur nicht ernst genug genommen. Achievements waren auf jeden Fall meine Idee.
In der Serie Blast from the Past berichten Superlevel-Autorinnen und -Autoren sowie geladene Gäste über prägende Spiele und Spielerlebnisse aus der Kindheit und Jugend.
Pascal Simon macht irgendwas mit Computern und schaut 90% seiner Wachzeit auf Bildschirme. Weil das wahrscheinlich ziemlich ungesund ist, macht er wenigstens das Beste daraus und redet bei Twitter über Videospiele, Katzen und obskure Programmiersprachen. Wenn ihn niemand aufhält schreibt er auf NES is dead auch mehr als 140 Zeichen über Spiele.