Broken Age Act 1: Smells Like Teen Spirit
Teenager sein ist nicht leicht. Erwachsenwerden, Identitätssuche, ständige Konflikte mit dem Elternhaus: Wenn Teenager beginnen, ihre persönlichen Freiheiten auszuloten und zu erweitern, wird der familiäre Regulierungsrahmen zum Gefängnis. In einem solchen Gefängnis steckt Shay. In Broken Age ist er das einzige Besatzungsmitglied eines Raumschiffs, das von einer künstlichen Mutterintelligenz als Safety-First-Kinderparadies betrieben wird. Weil die Mutter-KI nicht begreifen will, dass Shay dem Fisher-Price-Alter längst entwachsen ist, quält sie ihn Tag für Tag durch die gleichen öden Baby-Missionen. Shay steht kurz vor dem Teenager-Boreout.
Wie sehr würde es helfen, wenn er wüsste, dass da draußen Gleichaltrige leben, die ebenfalls leiden. Zum Beispiel Velouria, kurz Vella genannt. Auf den ersten Blick könnte die Situation beider Teenies nicht unterschiedlicher sein: Während Shays Muttersystem ihn mit übermäßiger Gluckerei zu erdrücken droht, plant Vellas Familie, die älteste Tochter zum Schutz der Dorfgemeinschaft einem Monster zum Fraß vorzuwerfen. Mit abstoßender Fröhlichkeit und Torte wird Vellas bevorstehender gewaltsamer Tod gefeiert wie eine Hochzeit. Tödliches Opferritual statt tödlicher Langeweile – es bleibt die Gemeinsamkeit, dass beide Teenager in Sachen eigener Lebensentwurf nichts zu melden haben. Und dass sie dankbar jede Chance ergreifen, daran etwas zu ändern.
Unter diesen Vorzeichen entfalten sich die zwei Geschichten im ersten Akt von Tim Schafers Abenteuer Broken Age, der bis zum 28. Januar noch Kickstarter-Unterstützern vorbehalten ist. Beide Geschichten werden parallel gespielt, zu jeder Zeit kann zwischen ihnen hin- und hergesprungen werden. Ob in Vellas Zuckerbäckerdorf oder in Shays Spielzeug-Enterprise, Broken Age sieht zu jeder Zeit wunderschön aus, an den malerischen Hintergründen und Charakteren kann man sich kaum sattsehen. Broken Age ist ein pastelliges, zweidimensionales Psychonauts – nur noch viel, viel schöner. Dabei wirkt es wie ein Coffee-Table-Kinderbuch: Irgendwie kindlich, aber edel gebunden, auf teures Papier gedruckt und deshalb eher in kinderlosen Haushalten zu finden. Große Kunst, ohne Frage. Groß sind übrigens auch die Charaktere: Shay und Vella nehmen sich den Raum, den sie brauchen – bisweilen einen erheblichen Anteil der Bildhöhe. Für ein Adventure eher ungewöhnlich, droht doch eine zu raumgreifende Figur den Blick auf wichtige Objekte zu verdecken. In Broken Age wird die Größe der Figuren nie zum Problem, im Gegenteil: Sie erzeugt ein intensives Gefühl von Nähe und Unmittelbarkeit.
Nicht jeder Abschied von Genre-Konventionen ist im ersten Akt von Broken Age so gut gelungen. Der Cursor etwa kennt für Interaktionen nur einen Zustand, eine „Betrachten“-Funktion gibt es nicht. Das verkürzt nicht nur die Spielzeit, es sorgt auch schnell für Enttäuschung. Schließlich gibt es hier so viel zu entdecken und zu bestaunen, über das ich gerne mehr wüsste. Außerdem bleibt mir so die Gedankenwelt von Shay und Vella weitgehend verschlossen. Zum Beispiel wüsste ich gerne, was Vella über ihre Mutter oder ihren Vater denkt. Immerhin wollen die beiden ihre eigene Tochter in den Tod schicken. Doch das Anklicken von Personen führt sofort zum Dialog statt zur Reflexion aus der Distanz. Über Shays und Vellas Haltung und Motivation kann ich deshalb oft nur spekulieren, trotz schöner Dialoge und einer liebevollen Charaktergestaltung bleiben beide ein bisschen seelenlos.
Und dann wäre da noch das Rätseldesign, das mich ratlos zurücklässt. Denn die Rätsel sind allesamt – Schafer-untypisch – recht leicht, zu leicht sogar. In der Kombination wecken Optik und Rätseldesign den Verdacht, dass Broken Age eigentlich ein Kinderspiel ist. Es dauert einige Zeit, bis Handlung und Dialoge diesen Verdacht widerlegen – zum Glück, denn gerade in seinen expliziteren Passagen ist Broken Age genial komisch. Doch warum dann der niedrige Schwierigkeitsgrad? Ist er ein Kompromiss, um eine möglichst breite Spielerbasis zu erreichen? Ist er nur ein Early-Access-Problem? Oder liegen die Prioritäten in Broken Age stärker auf Handlungsfluss und Atmosphäre als auf Gameplay? Zumindest der erste Akt liefert keine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage.
Aber, ganz ehrlich: Fuck Rätseldesign, fuck Interaktionsmöglichkeiten, wenn sich ein Spiel so gut anfühlt wie Broken Age! Es sieht nicht nur wunderschön aus, ist großartig synchronisiert und steckt voller fantastischer Ideen. Es ist ein ästhetisches und dramaturgisches Erlebnis, ein spielbares Drama auf einer ganz großen Bühne. Für ein konventionelles Adventure ist das äußerst bemerkenwert. Wo andere Genres mit offenen Welten, Charakterentwicklung oder choreographierten Abläufen Spieler vergleichsweise leicht in den Bann ziehen, leidet das Point-and-Click-Abenteuer unter seinem unvermeidlichen Stop-and-Go. Broken Age aber kreiert bisweilen eine so dichte Atmosphäre, dass ungelöste Rätsel und Handlungsfortschritt in den Hintergrund treten und ich mich noch einige Minuten länger in einer der beiden Spielwelten aufhalten will. Einfach so, ohne ein konkretes Ziel. Dahinter steckt mehr als nur herausragende Grafik und ein stimmungsvoller Soundtrack.
Zu Recht wurde das Adventure bislang überwiegend sehr positiv aufgenommen. Den Double Fine-Entwicklern dürfte ein großer Stein vom Herzen gefallen sein, schließlich waren die Erwartungen an das Spiel um ein Vielfaches höher, als es für das Genre typisch ist. Ein Scheitern des wohl bekanntesten Kickstarter-Projekts im Spielebereich wäre nicht das Ende der Welt gewesen. Aber es hätte durchaus ein entmutigendes Signal sein können, wenn ausgerechnet das Spiel, das den Boom der crowdfinanzierten Spiele ausgelöst hat, die hohen Erwartungen enttäuscht hätte. Und, Tim Schafers Können und Legendenstatus zum Trotz: Ganz unwahrscheinlich war das angesichts des eingesammelten Betrags von mehr als 3,3 Millionen US-Dollar nicht. Gelegentlich drängte sich der Eindruck auf, dass der ein oder andere Backer für eine solche Summe das beste Spiel der Welt oder zumindest das beste Tim-Schafer-Spiel aller Zeiten erwartete. Oder wenigstens ein Spiel, das dem von Publishern nach wie vor stiefmütterlich behandelten Genre zu einer kommerziellen Renaissance verhilft.
Von Geld auf Qualität zu schließen, ist schon per se problematisch. Hinzu kommt: Der eingesammelte Betrag ist zwar für ein Crowdfunding-Projekt enorm – betrachtet man ihn aber nüchtern als Entwicklungskapital für ein kommerzielles Spiel, bleibt ein höchstens durchschnittliches Budget übrig. Zum Vergleich: Die Entwicklung von Psychonauts fraß nach Tim Schafers Angaben ein Budget von um die 13 Millionen Dollar, also fast viermal so viel. Für ein Psychonauts 2, über das sich im Jahr 2012 halbernste (erfolglose) Verhandlungen mit dem Minecraft-Erfinder Markus „Notch“ Persson entwickelten, kalkulierte Schafer gar ein Budget von rund 18 Millionen Dollar. Selbst wenn ein Adventure unter eigener Verantwortung günstiger zu entwickeln ist als ein nach traditionellem Muster vertriebenes 3D-Jump-n-Run, wirken die 3,3 Millionen für Broken Age dagegen wie Peanuts. Betrachtet man dann den Aufwand, den Double Fine betrieben hat – ein Hollywood-Aufgebot von Sprechern wie Elijah Wood, Wil Wheaton oder Jack Black, ein live eingespielter, bombastischer Orchestersoundtrack – erstaunt es wenig, dass im Verlauf der Entwicklung Budgetprobleme auftauchten. Die etwas unglückliche Entscheidung, das Spiel in zwei Teilen zu veröffentlichen, ist vor allem dieser Tatsache geschuldet.
Auch wenn das Geld nicht ausreichte, um das Spiel in einem Stück zu veröffentlichen: Broken Age ist, zum Glück, ganz und gar nicht gescheitert. Nicht als Vorzeige-Crowdfunding-Projekt, nicht als Schafer-Werk, aber vor allem nicht als Adventure, das für sich selbst steht. Schon der erste Teil erweitert das Spiele-Universum um einige so entzückende Ideen und eine so traumhafte Bilderwelt, dass Broken Age über seine berühmte Finanzierungsgeschichte hinaus Teil des Adventure-Kanons werden dürfte.
Umso grausamer ist die Zwangspause nach dem Ende von Akt 1. Der gewaltige Cliffhanger lässt erwarten, dass das Spiel im zweiten Teil noch einmal einen Gang zulegt. Wann die Fortsetzung folgen wird, ist noch völlig unklar, schließlich muss der Erlös aus dem ersten Teil die Weiterentwicklung finanziell absichern. Wer sich dieser nervlichen Belastung nicht gewachsen wähnt, kann das Spiel bis zum Erscheinen des zweiten Teils meiden. Ich empfehle aber, sich umgehend in des Abenteuers ersten Akt zu stürzen. Broken Age ist selbst die Höllenqualen des Wartens wert.