Disorder: Trauerarbeit

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Etwa 5% aller in Deutschland lebenden Menschen haben eine Depression. Je nach Studie kann diese Zahl etwas variieren. Einschließlich undiagnostizierten Dunkelziffern, Menschen mit depressiven Phasen oder verschleiernden Begriffen wie “Burnout” dürfte die reale Zahl höher ausfallen. Und obwohl allein in Deutschland Millionen Menschen betroffen sind, öffnet sich der gesellschaftliche Diskurs nur langsam für das Thema, das für viele immer noch ein Tabu ist. Zu schwer scheint es zu greifen, besonders für die, die nicht betroffen sind. Mit Aktionen wie #isjairre oder #notjustsad wurde über soziale Medien viel Aufmerksamkeit erzeugt, um die Stereotype von “den Depressiven” zu durchbrechen und Sichtbarkeit zu schaffen.

Besonders auch in der alternativen Games-Szene haben sich in den letzten Jahren viele Entwickler_innen dem Thema angenommen. Spiele scheinen die ideale Plattform, um anderen die eigene Perspektive nahezubringen. Die bekanntesten Beispiele wie Depression Quest, Actual Sunlight oder Macro Depression versuchen das Gefühl der Machtlosigkeit in minimalistischen Spielmechaniken zu vermitteln und setzen diese durch ihre Erzählung in den entsprechenden Kontext. Disorder wählt einen anderen Weg sich und stellt den dunklen Bildern einen Puzzle-Plattformer gegenüber.

Dabei sind die eigentlichen Themen von Disorder weniger die Depressionen und Angstzustände des namenlosen Hauptcharakters, sondern vielmehr sein Weg durch verschiedene Phasen eines Verlusts. Der Unfalltod seines jüngeren Bruders treibt ihn in Trauer, Hoffnungslosigkeit und Zweifel. Die Levels sind dabei lose an jede dieser Phasen angelehnt: “to keep busy”, “to run”. Davonlaufen. Sich ablenken.

Von Anfang an ist die Stimmung bedrückend. Viel der Atmosphäre zieht Inspiration aus Horrorspielen wie Lone Survivor, Home oder Claire. Die Welt ist in zwei Ebenen unterteilt, zwischen denen gewechselt wird. Eine “helle” und eine “dunkle” Version, die sich im Leveldesign nur leicht, umso mehr aber in der Atmosphäre unterscheiden. Die anfänglich noch melancholisch schönen Sonnenuntergänge und Wälder weichen dabei mehr und mehr abstrakter werdenden Gebilden. Im Verlauf verschwimmen die Unterscheidungen zwischen beiden zunehmend, bis die vermeintlich reale helle Welt nur noch von wummernden Geräuschen untermalt wird, während im dunklen Albtraum ein melodischer Soundtrack erklingt und die Frage aufkommt, welche der beiden eigentlich die “bessere” ist. Am Ende zerfällt die ganze Welt in Glitches und Grafikfehler, zerbricht das Konstrukt, das sich um die Spielfigur aufgebaut hat, so wie er sich selbst immer wieder in seinen Träumen hat zerfallen sehen. Und schlussendlich muss er sich seinen Ängsten stellen und seinen Verlust akzeptieren.

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Es gibt Momente, in denen Disorders Spielmechanik eindringlich schafft, die Gefühlswelt des Protagonisten zu vermitteln. Einige Abschnitte spielen in nahezu vollkommener Dunkelheit, lediglich beim Springen erhellt ein Lichtschein kurz die Umgebung. Ebenso gibt es viele Abgründe, die zunächst wie Sackgassen wirken, aber letztendlich im blinden Vertrauen übersprungen werden können und müssen. Der größte spielerische Widerspruch zu den inhaltlichen Metaphern findet sich in den versteckten Geheimnissen, die neue Spielmodi freischalten und so einen Wiederspielwert schaffen sollen – aber warum sollte jemand einen abschließenden Trauerprozess mehrmals durchleben wollen?

Leider kommt immer wieder das Gefühl auf, dass Disorders Team etwas zu sehr darum bemüht war, einen anspruchsvollen Plattformer zu erschaffen. Dass der Wechsel zwischen den Welten keine große Innovation ist, stört nicht. Mehr aber, dass einige Abschnitte frustrierend schwer sind und weniger auf gekonntes Timing, sondern auf “Trial and Error” hinauslaufen. Disorder ist für seine Spielzeit von zwei bis drei Stunden vergleichsweise teuer und der Schwierigkeitsgrad steigt steil an. Die Pixel-Grafik im 4:3-Format ist in einem ruppigen Stil gezeichnet und setzt teilweise absichtlich Grafikfehler als Stilmittel ein. Auch wenn vieles davon die Idee des Spiels unterstreicht, wird es vermutlich dafür sorgen, dass die Reichweite von Disorder eher gering bleiben wird und viele es als “prätentiös” abstempeln werden. Ganz so, wie viele Depressive sehen.