Gefangen im System.
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Ich rutsche eine Böschung hinab und laufe. Ich weiß nicht, woher ich komme oder wohin es mich treibt, also laufe ich weiter. Meine Augen beobachten den Horizont. Der neblige Wald bietet mir Möglichkeiten, mich zu verstecken. Maskierte Arbeiter bewachen merkwürdige Technikvorrichtungen. Kleine Kammern, Schläuche, mitten im Wald. Schwerbewaffnete Männer mit Jagdhunden stehen bereit. Sie suchen mich. Ich laufe weiter. Wenn sie mich schnappen, sterbe ich. Immer und immer wieder. Ich werde erschossen, die Hunde zerfleischen mich, ich falle in einen Graben, ich ertrinke. Doch diese Hindernisse überwinde ich. Eines nach dem anderen. Ich verstecke mich. Ich warte. Und ich laufe weiter. Mit der Zeit verliere ich die Verfolger und mir wird bewusst, dass ich nicht mehr fliehe. Ich bewege mich auf etwas zu. Etwas zieht mich an. Und ich laufe weiter.
Inside ist das neue Spiel von Playdead und der spirituelle Nachfolger des Indie-Erfolgs Limbo, in dem ein kleiner Junge in einem monochromatischen Sidescroller durch Landschaften läuft und Rätsel löst. Erneut erwacht der Spieler im Körper eines Jungen, der im Wald von links nach rechts laufen muss. Die Farben dieser Welt sind erneut entsättigt, lediglich mein rotes T-Shirt gibt dieser tristen Welt so etwas wie Identität. Ähnlich wie in Limbo wird auch in Inside kein Wort gesprochen, die Geschichte ist wieder lose erzählt durch vage Informationen im Hintergrund und der Umgebung, aus denen sich der Spieler einen Reim machen soll. Und ich sterbe. Oft. Doch die Reise geht immer weiter.
Inside jedoch wirklich zu beschreiben, fällt mir äußerst schwer. Die Gemeinsamkeiten mit dem im Vergleich verblassenden Vorgänger hören bereits nach wenigen Minuten auf. Inside ist mehr, will mehr. Und das klappt! In den ersten Minuten erinnert es noch an Nineteen Eighty-Four, George Orwells dystopischen Roman über einen allmächtigen, totalitären Überwachungsstaat. Überall lauern Gefahren, meine Freiheit ist eingeschränkt, man jagt mich – und tötet mich skrupellos, wenn man mich, einen kleinen Jungen, findet.
Visuell ähneln sich beide Titel ebenfalls, wobei Inside die Tiefe des 2.5D-Sidescrollers tatsächlich nutzt. Während Limbo seine Hintergründe zur Vermittlung von Informationen heranzieht, interagiert die Welt in Inside mit mir auf brutale Weise. Mache ich ein Geräusch, kommen die Wachleute zu mir gerannt. Aus der Ferne kommen Hunde angestürmt, um mich in Stücke zu reißen. Ständig ruhen meine Augen auf dem Horizont, in der Angst, dass gleich die nächste Gefahr auf mich springt. Fuck. Was jetzt? Währenddessen verliere ich den Blick für mich selbst, ich bin unglaublich angespannt. Diese clevere Interaktion, die durch ihren gezielten Einsatz äußerst effektiv ist, macht mich langsam paranoid.
Mit zurückgelegter Strecke offenbart Inside jedoch weitere Facetten. Ich treffe auf Wesen, die entfernt an Menschen erinnern. Oder… waren es einmal Menschen? Ich durchstreife verlassene Labore, tauche Kilometer tief in geflutete Fabriken hinab. Immer weiter, immer tiefer. Große, mythisch anmutende Laborhallen spielen das Gefühl einer natürlichen Umwelt vor. Sie rauben mir den Atem. In Wahrheit bewege ich mich aber tiefer inside. Flucht ist eine Illusion. Aber ebenso auch die Nähe zur Natur. Drinnen ist alles künstlich; kontrolliert.
Unterwegs treffe ich sporadisch auf Menschen. Entweder handelt es sich um gesichtslose, im Gleichschritt marschierende Massen, die über Gedankenkontrolle zur Arbeit gezwungen oder abtransportiert werden. Oder es sind Aufseher, Wissenschaftler oder auch Eltern, die ihren Kindern dieses System nahbar machen wollen, es erklären wollen. Was auch immer in dieser Welt passiert ist, es geschah vor langer Zeit. Eine Traurigkeit liegt wie ein Schatten über diesem System. Ein Gefühl, dass die Dinge so sein müssen, um die Situation zu überstehen, breitet sich aus.
Da durch die vage Präsentation weder von einer Erzählung oder einer Geschichte gesprochen werden kann, bleibt Inside metaphorisch offen. Playdeads neuer Titel ist eine individuelle Erfahrung, die durchlebt werden muss. Andere Rezensionen beschreiben oft eine traumgleiche Erfahrung. Die Low-Poly-Welt mit ihrem sehr effektvoll eingesetzten Licht und dezent überdehnten Animationen wirkt tatsächlich so. Sich daraus jedoch einen Reim zu machen, bleibt jedem Spieler selbst überlassen. Wie in der Traumdeutung werden kleine Details extrapoliert, interpretiert und zum Spinnen von wilden Theorien genutzt.
Wann auch immer man aber ein Gefühl dafür bekommt, was dieses Spiel ist, wie es funktioniert oder was es einem sagen will, wandelt es sich. Keine Szenerie gleicht einer anderen, kein Puzzle wird wiederholt, die Motive in den wunderschönen Hintergründen und die Gefahren wechseln sich stets ab. Das ist bewusst und kreiert Unsicherheit, die das totalitäre System unterstützt. Der fehlende Fokus auf den wahren Feind im Regime zerstreut weitreichende Anstrengungen zur Revolution. Gerade deshalb ist es so interessant, dass ich in Inside nicht zurückkämpfen kann. In Limbo konnte man die Spinne noch besiegen, hier fühle mich ständig hilflos – bis ich es nicht mehr tue. Bis Playdead dem totalitären Extrem ein anderes, groteskes Extrem entgegensetzt und mir die Möglichkeit gibt, die Kontrolle zu übernehmen.
Genau dieses Thema der Kontrolle dominiert Inside – bei aller Liebe für unterschiedliche Interpretationen – stark. Als Junge fliehe ich vor der weitreichenden Kontrolle des Regimes. Ein Großteil der Bevölkerung wurde, anders als in Nineteen Eighty-Four, erfolgreich durch Thought Control gefügig gemacht. Orwells Alptraum ist wahr geworden: Durch einen Helm kann auch ich mir die Massen zu Nutze machen, sie kontrollieren, für meine eigenen Zwecke einsetzen.
Und für mein Ziel scheint mir alles heilig. Mit zunehmender Nähe zum Ende hin werde ich skrupelloser. Ich fühle Mitleid mit den Figuren, die ich kontrolliere. Sie erleiden Schmerzen oder sterben, nur damit ich mein Ziel erreiche. Dennoch treibt es mich weiter. Oder ist es die Figur? Moment mal, wer kontrolliert hier noch wen? Meine Motivation wirkt nicht authentisch. Inside gibt mir keine nachvollziehbaren Gründe, wieso ich die Puzzles lösen soll. Wieso ich das Ziel erreichen sollte. Ich übernehme keine Heldenrolle, keine nachvollziehbare, emotionale Reise. Wenn wir mir mein Ziel dann schlagartig bewusst wird, ist es zu spät. Ich bin verloren.
Inside argumentiert trotz einer gewissen Unbestimmtheit in der Erzählung deutlich für die politische Mitte. Weder in einem Extrem, noch im anderen wird der Mensch seinen Frieden mit sich und dem Planeten finden. Die vermeintliche, minimale Kontrolle, die ich auf dieser Reise hatte, war eine Illusion. In einem System, bestimmt von Ungleichheit, Gewalt und Unrecht, ist die Flucht nicht nur keine Lösung, sie ist eine bequeme Illusion. Ein Ausbruch aus dem System ist nicht möglich. Einmal drin, ob bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt, man bleibt gefangen. Die einzige Lösung ist die Abschaltung des Systems.