Wenn eine Farbe die Hauptrolle und das Geschlecht gar keine Rolle mehr spielt.
Grün sei die Farbe der Hoffnung, sagen Farben-Esoteriker. Nie war diese Aussage größerer Schwachsinn als in der Welt von Shardlight: Die Farbe Grün steht hier für radioaktive Verstrahlung, für Krankheit und Tod. Und sie ist überall, wie ein Thema zieht sie sich durch das postapokalyptische Adventure. Das Neongrün der namensgebenden Uranglasscherben, die nach dem Untergang der alten Welt zur Lichtquelle geworden sind, verleiht der Umgebung eine grell-giftige Note. Auch die Oberfläche des Spiels greift dieses Farbschema auf: Die Dialogboxen leuchten verstrahlt und die Porträts, die das Spiel bei Dialogen einblendet, umgibt stets ein zarter, neongrüner Schein. Der Kontrast zur Landschaft, in der Shardlight spielt, könnte größer nicht sein: Von der bunten Plastikwelt der alten Zivilisation ist nach einem Bombenabwurf 20 Jahre zuvor nichts mehr übrig. Die neue Realität ist eine matschfarbene.
Grün ist auch die größte Bedrohung für die Menschen in Shardlight: die Krankheit Green Lung, die nach dem Bombenabwurf ausgebrochen ist. Ein Heilmittel gegen diese tödliche Erkrankung ist noch nicht gefunden, den sicheren Tod verhindert nur eine Impfung – allerdings muss diese monatlich aufgefrischt werden und der Impfstoff ist rar. Die herrschende Klasse, die sich Aristokratie nennt und einen entsprechend dekadenten Lifestyle pflegt – einschließlich weiß gepuderter Perücken und Gesichter – verteilt die Impfdosen über eine Lotterie an die Bevölkerung. Einen Lotterieschein bekommt nur, wer für die Aristokraten unangenehme und gefährliche Arbeiten verrichtet. Genau solch ein Lottery Job ist es, mit dem für Shardlights Protagonistin, die Kfz-Mechanikerin Amy Wellard, das Abenteuer beginnt: Auch sie ist an der grünen Lunge erkrankt und muss auf Losglück hoffen.
Der Aufbau von Shardlight erinnert sehr an das Point-and-Click-Adventure Dead Synchronicity: Tomorrow Comes Today. Auch darin kämpfen Menschen nach der großen Katastrophe in einer lebensfeindlichen Welt ums Überleben – unterdrückt durch ein autoritäres Regime und bedroht von einer mysteriösen, tödlichen Krankheit. Und noch etwas hat Shardlight mit Dead Synchronicity gemeinsam: Es ist für ein Adventure düster im Ton und verhältnismäßig blutig.
Statt genretypischer Situationskomik und kniffligen Rätseln steht bei Shardlight eine dunkle, spannende Geschichte im Vordergrund. Sie ist solide geschrieben und bietet kluge Wendungen ebenso wie einige emotionale Momente, ohne dass jemals der Eindruck ensteht, es ginge um billige Effekthascherei.
Allerdings bezahlt das Spiel für seine narrative Stärke einen hohen Preis: Eine Geschichte wie diese verlangt nach einen gewissen Erzählfluss und der führt hier dazu, dass die meisten Rätsel nicht nur leicht, sondern fast schon viel zu leicht ausfallen. Ein paar Herausforderungen hätten dem Titel sicher nicht geschadet. Doch auch wenn es meist nur Alibi-Aufgaben zu lösen und streckenweise fast gar nichts zu tun gibt, geht das Konzept im Großen und Ganzen auf: Die Handlung fesselt genug, sodass ich auf stundenlanges Inventar-Kombinieren und anspruchsvolle Logikrätsel verzichten kann. Wenn es schon leicht sein soll, hätte ich mich allerdings über ein Hotspot-System gefreut, weil es besonders in den Rändern und Ecken oft sehr düster zugeht und Shardlight so stellenweise vom Adventure zum Hidden Object-Spiel wird.
Im Gegensatz zu Dead Synchronicity, das durch seinen expressiven Comic-Stil ins Auge sticht, wagt Shardlight keine grafischen Experimente: Wie praktisch alle “Wadjet Eye”–Titel, wurde es mit dem Adventure Game Studio (AGS) erstellt, in einer Auflösung von 320 mal 200 Pixeln. Skaliert auf moderne Bildschirme wirkt dies entsprechend grob gepixelt. Das gefällt sicher nicht jedem, ich fand die Spielwelt grafisch aber sehr stimmig. Zu verdanken ist das Ben Chandler, der das Zeichnen mit wenigen Pixeln meisterhaft beherrscht. Noch eindrucksvoller als die stimmungsvollen Hintergründe sind die Porträts der handelnden Personen, die in jedem Dialog großflächig eingeblendet werden. Chandler verleiht ihnen einzigartige und realistische Gesichtszüge, die je nach Situation Verärgerung, Angst oder Überraschung ausdrücken können und viel zur Überzeugungskraft der Geschichte beitragen.
Überhaupt sind die Menschen das, was Shardlight von einem gelungenen Adventure zu einem außergewöhnlichen Spiel macht. Das hat auch damit zu tun, wie das Spiel mit Geschlechterrollen umgeht – oder vielmehr: Wie es Geschlechterrollen umgeht. Die herrlich entspannte Protagonistin Amy ist da nur die Spitze des Eisbergs: Die vorkommenden Frauen leiten neben Autowerkstätten auch Totenkulte und Rebellengruppen. Zugleich mangelt es keineswegs an gut geschriebenen, relevanten männlichen Besetzungen. Es scheint, als hätten Geschlechterklischees in der postapokalyptischen Welt einfach keinen Platz mehr – zumindest im Plebs, denn die Aristokratie ist offenbar noch nicht ganz so weit. Shardlight nimmt Spielerinnen und Spieler dabei ernst genug, um sie darauf nicht explizit hinweisen zu müssen. Nirgends ein winkender Zaunpfahl, nichts schreit „Schau mal, wie gut wir Frauenrollen schreiben können!“ Wadjet Eye schafft die gerechte Geschlechterrepräsentation mit einer Leichtfüßigkeit, die fast schon unbewusst wirkt, aber sicher kein Zufall ist.
Ebenfalls kein Zufall ist es, dass Wadjet Eye mit Shardlight erneut ein sehr gutes Point-and-Click-Adventure gelungen ist, das mit drei verschiedenen Enden und einem sehr hörenswerten Kommentarmodus auch noch ziemlich umfangreich ausfällt. Das kleine Team arbeitet sich an diesem Genre seit vielen Jahren mit einem Grad an Perfektion ab, der eine Menge Respekt verdient. Und das wohlgemerkt für eine Zielgruppe, die nie besonders groß sein wird, weil der spezielle Stil der AGS-Adventures eben nicht jeden Geschmack trifft.
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