Der Traum von einer heilen Welt und eine bittere Erkenntnis.
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Eines Tages habe ich genug vom Lärm des Großraumbüros, kündige meinen Job bei der Joja Corporation und nehme den nächsten Bus nach Stardew Valley. Hier kann ich mir auf dem geerbten Bauernhof ein besseres, einfacheres Leben aufbauen. Wie oft bietet sich schon die Gelegenheit, noch mal ganz neu anzufangen?
Stardew Valley ist eine Flucht aus der technisierten Welt, dem Alltag, aus dem grauen Bürojob. Zurück zur Natur. Als ich meine kleine Farm vor den Grenzen von Pelican Town an der Küste des Stardew Valley zum ersten Mal erblicke, steht da zwar nur eine bescheidene Hütte auf einem verwilderten Grundstück, aber es ist meine bescheidene Hütte. Und so beginne ich zu Jäten und zu Pflügen, zu Sähen und zu Gießen und mein erstes selbst angebautes Gemüse zu Ernten. Alles scheint endlich gut zu sein. Doch der lange Schatten der Großstadt legt sich auch über die vermeintliche Utopie von Stardew Valley. Der Supermarkt der Joja Corporation droht, den lokalen Lebensmittelladen aus dem Geschäft zu drängen. Das verfallene Gemeindezentrum – einst das Symbol für die Gemeinschaft – soll einem Lagerhaus weichen und der resignierte Bürgermeister bringt kaum noch die Kraft auf, sich gegen all diese Veränderungen zu wehren.
Doch meine erste Aufgabe besteht zunächst darin, mich jeder Bewohnerin und jedem Bewohner von Pelican Town persönlich vorzustellen. Als Belohnung für die 28 “Hallos” erhalte ich ein bisschen Gold. Allein für all das Händeschütteln benötige ich mehrere Tage. Währenddessen lerne ich langsam, dass das Leben als Farmer viele Verpflichtungen mit sich bringt. Jeden Morgen muss ich meine Pflanzen gießen und alle paar Tage stutze ich das wuchernde Gras. Wenn ich mich dann abends nicht in der Kneipe blicken lasse, halten mich die anderen für einen verschrobenen Eigenbrötler. Es ist gar nicht so leicht, soziale Kontakte, Karriere und Freizeit unter einen Hut zu bringen – geschweige denn, einen Hut freizuspielen.
Stardew Valley ist auch eine Flucht aus der düsteren, zynischen Welt moderner Videospiele. Spielerisch nahezu frei von eigenen Ideen bastelt Eric Barone aus Versatzstücken von Harvest Moon, Animal Crossing und Zelda einen großen Nostalgie-Vergnügungspark. Stardew Valley schwelgt so sehr in der Vergangenheit und träumt so sehr vom Aussteigerleben, dass es manchmal vergisst, selbst nur ein Videospiel zu sein. Der Bürgermeister von Pelican Town schüttelt dann seinen Kopf über die jungen Leute, die den ganzen Tag vor dem Fernseher verbringen. Ich nicke zustimmend und fühle mich gleich viel besser, während ich die Blumen vor meiner Veranda gieße.
Ich bin stets viel zu beschäftigt, als dass mir Stardew Valleys Festhalten an der Vergangenheit weiter auffallen würde. Am Schwarzen Brett finden sich immer neue Aufgaben und auch beim Wiederaufbau des Gemeindezentrums gibt es viel zu tun. Und wenn ich noch 4.000 Goldmünzen spare, kann ich mir ein größeres Haus leisten! Zur Abwechslung von der Arbeit auf dem Bauernhof schnappe ich mir einfach mein Schwert und gehe in der Höhle Monster töten. Und am nächsten Tag fange ich wieder von vorne an. Erfolg bekomme ich auch in der heilen Welt von Stardew Valley nicht geschenkt, sondern muss ihn mir hart erarbeiten.
Ich lerne Harvey kennen. Ich mag Harvey und spreche oft mit ihm. Er erzählt mir vom harten Alltag in der örtlichen Arztpraxis. Er hat zu wenige Patienten. Es ist schwer, in der kleinen Stadt zu überleben. Ich höre zu und will ihm die Last seiner Sorgen so ein wenig leichter machen. Am nächsten Tag fragt er genervt, warum ich ihn dauernd anspreche. Ich fühle mich furchtbar und lasse ihn die nächste Zeit in Ruhe. Beim Sommerfest, einige Wochen später, schenke ich ihm meine erste selbst angebaute Erdbeere und frage, ob er mit mir tanzen möchte. Seine Abfuhr könnte nicht unmissverständlicher sein. Vielleicht hätte ich ihm etwas anderes schenken müssen? So funktioniert die Liebe in den meisten Videospielen ja schließlich: Ich verschenke Erdbeeren und werde irgendwann mit einer Beziehung belohnt.
Während der Rest von Pelican Town den Beginn der neuen Jahreszeit feiert, verlasse ich die Veranstaltung frühzeitig und schufte noch ein paar Stunden auf meinem Acker. In den nächsten Tagen arbeite ich weiter, vom Sonnenaufgang in die Dämmerung hinein, bis mein kleiner Energiebalken erschöpft ist. Bevor ich früh ins Bett gehe, schalte ich noch den Fernseher ein und schaue den Wetterbericht oder eine Kochshow. Ich kann jetzt Pizza zubereiten. Morgen soll es regnen — vielleicht probiere ich das Rezept direkt aus und verbringe den Tag einfach allein auf der Couch, mit Pizza und einer Kochsendung.
In Stardew Valley darf ich sein, wie ich es will. Ich kann einen grünen Irokesen tragen oder grüne Haut haben. Ich muss auch keine weiße Figur spielen, allerdings gehöre ich dann einer verschwindend kleinen Minderheit an. Die Möglichkeit, im Spiel schwarz und homosexuell zu sein, ändert nichts daran, dass fast alle anderen in Pelican Town weiß und hetero sind. Pelican Town ist das Dorf, aus dem damals alle zum Studieren in die Großstadt flüchteten. Auch deshalb fühlt sich Stardew Valley an, als würde man nach Hause kommen. Ein Zuhause aus einem Dutzend Spielen, die ich früher schon einmal gespielt habe und vor dem Alltag, vor dem ich flüchten wollte.
Der Sommer geht, der Winter kommt, und danach wieder der Frühling. Meine Farm wird langsam größer, auch wenn der Fortschritt sich oft wie Stillstand anfühlt. Der Alltag hat mich in Pelican Town schnell wieder eingeholt und eine deprimierende Erkenntnis mitgebracht: Auch in Stardew Valley besteht das Leben nur aus den immer gleichen Routinen. Und die traurige Wahrheit ist, dass mir wohl niemals jemand einen Bauernhof schenken wird.