Eine Insel in der Existenz(ialismus)krise.
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Schon 1971 skizziert der Futuruloge Alvin Toffler in seinem Buch “Der Zukunftsschock” eines der größten Probleme der Konsumgesellschaft: das “Overchoice”-Phänomen. Sobald Menschen mit einer Vielzahl an mehr oder weniger gleichwertigen Auswahlmöglichkeiten konfrontiert werden, fällt die Entscheidung für eine dieser Möglichkeiten enorm schwer. Auch Enderal, eine der ambitioniertesten Komplettüberarbeitungen zum Monumental-Rollenspiel The Elder Scrolls V: Skyrim und bereits die dritte große Elder-Scrolls-Mod von SureAI aus München, ist in dieser Hinsicht eine unbarmherzige Geliebte. Denn bei all der stimmigen oberflächlichen Schönheit und den sinnvoll auf links gezogenen Gameplay-Elementen aus der Ursuppe des Quellenmaterials wird die Wahl schnell zur Qual.
Das wird schon zu Beginn deutlich. Das Spiel versetzt mich in eine sich Stück für Stück in einen Psycho-Albtraum verwandelnde Sequenz, die impliziert, dass ich meine eigenen Eltern umgebracht habe. Dies sorgt durch die großartig vertonten Dialoge für aufgestellte Nackenhaare. Danach erwache ich als blinder Passagier aus Nehrim, Schauplatz der gleichnamigen Vorgänger-Mod für The Elder Scrolls IV: Oblivion, an Bord eines Schiffs und erstelle meinen Charakter nach dem bekannten Baukastenprinzip. Nach einer Begegnung mit einer mysteriösen, verschleierten Frau werde ich von der Besatzung entdeckt, gefesselt und über Bord geworfen. Dennoch bezahle ich das nicht etwa mit dem Leben, sondern erwache nach einer weiteren Vision am Strand von Enderal, ausgestattet mit einer plötzlich ausgebrochenen, mit ungewöhnlichem Fieber einhergehenden Magie-Begabung und jeder Menge Fragen.
Der Weg zu den entsprechenden Antworten – wie bin ich auf Enderal gelandet, was hat es mit den Visionen, den zahllosen die Insel heimsuchenden Untoten und meiner magischen Begabung auf sich – verläuft oberflächlich betrachtet über Genre-Standards. Ich erledige Quests, entdecke Orte, bringe Gegner zur Strecke und erhalte dafür Erfahrungspunkte. Steige ich ein Level, bekomme ich Lern-, Handwerks- und Erinnerungspunkte. Erstere kann ich durch die Benutzung entsprechender Bücher zur Steigerung meiner primären Kampf- und Magie-Fähigkeiten nutzen, zweitere durch wieder andere Bücher einsetzen, um Sekundärfertigkeiten wie Handwerkskunst oder Alchemie zu verbessern. Mit letzteren kann ich besondere Talente in an gängige Archetypen angelehnten Klassenbäumen freischalten. So weit, so bekannt. Doch unter der Oberfläche des Open-World-RPGs versteckt sich eine enorm vielschichtige Geschichte, die sich um die Selbstbestimmung des Menschen, existenzialistische Fragen und Kritik an organisierter Religion dreht.
Die zahllosen Katastrophen, von der mir die Figuren im Spiel der optisch abwechslungsreichen und im Vergleich zum Grundspiel atmosphärisch weitaus dichteren Welt berichten, hängen nämlich mit dem Tod der sogenannten Lichtgeborenen zusammen. Die Erzählungen um diese gottgewordenen Menschen werfen die Frage auf, wie viel man für die persönliche Freiheit riskieren soll und darf – gerade vor dem Hintergrund, dass die Gesellschaft in Enderal in ein dreigeteiltes Kasten-System unterteilt ist und eine lupenreine Theokratie darstellt, durchgesetzt durch die Weisungen des Hüter-Ordens. Reflektiert wird diese Frage vor allem in Konversationen mit Figuren, die mich auf meiner Reise für längere oder kürzere Strecken begleiten, beispielsweise mit dem Schurken Jespar Dal’Varek, einem Anhänger eines pragmatischen Egoismus. Anders als bei den meisten Rollenspielen bleiben meine Begleiter jedoch keine reinen Abziehbilder gängiger Klischees, sondern haben ihre eigenen Geschichten zu erzählen, die sie enorm plastisch machen. Dal’Varek, der seit einer schlechten Erfahrung nicht mehr lieben kann. Die Hüterin Calia Sakaresh, die als Hexe gebrandmarkt wurde und einem Magister des Ordens ihr Leben verdankt. Oder die Magierin Lishari Peghast, die Teil einer Gruppe abtrünniger Magier ist, die den Tod der Lichtgeborenen mit zu verantworten hat.
Bei dermaßen viel Detailverliebtheit hinsichtlich des großen Ganzen übersieht man leicht, das auch der Rest von Enderal voller kleiner Geschichten steckt, die mich mehr in den Bann ziehen als weite Teile von Skyrim. Den Machern gelingt es, einen eigenen Kosmos aus Mythen, Überlieferungen und aus der realen Welt adaptierten Konzepten auf die Beine zu stellen, in dem jeder Charakter glaubwürdig wirkt. Jeder Landstrich, ob die tropische Ostküste, das Heideland im Westen oder die schneebedeckten Gipfel im Norden, ist von einem Leben erfüllt, das der braun-grauen, tristen Landschaft Skyrims häufig abgeht, und auch die Sprecher, Dialoge und musikalische Untermalung bewegen sich fast ausschließlich auf Profi-Niveau. Dass ein derart riesiges, rein hobbybasiertes Projekt auch mit einem großen Rattenschwanz an Bugs, Clipping-Fehlern und Abstürzen zu kämpfen hat: geschenkt. Skyrim ist tot, es lebe Enderal.