Der Stufenaufstieg des Walking Simulators.
Skandal! Unhaltbarer Etikettenschwindel! Konsumentenbetrug! Und das schlimmste daran: Entwickler und Animationskünstler David OReilly ist ein Wiederholungstäter. Schon sein experimentelles Werk Mountain hatte nicht viel mit einem regulären Spiel zu tun. In seinem neuen Exkurs Everything zieht sich OReilly auf gewisse Art und Weise die Walking-Simulator-Schlappen an und bugsiert sein optisch und inhaltlich exzentrisches und dekonstruiertes Schaffen weiter in Richtung Videospiel. Aber wirklich alles kann man in Everything eben nicht spielen.
Vielmehr versetzt mich Everything als eine Art kosmischer Urfunke in ein beliebiges Ding aus einem halbwegs überschaubaren Fundus von Kreaturen. Dieses wird an einer zufälligen Position auf einem der zahllosen Kontinente platziert, denen je andere Klimazonen zugrunde liegen. Dieser befindet sich wiederum auf einem der zahllosen Planeten, die durch zahllose Galaxien trudeln – das Schema ist also schnell klar. In der Rolle dieses Etwas – in meinem Durchlauf durfte ich zunächst in die Haut eines Kamels schlüpfen – bewege ich mich zunächst relativ unbeholfen und herrlich halbfertig animiert über die minimalistisch ausstaffierte Landmasse und lerne schnell, auf meinem Radar aufpoppenden Gedankenwölkchen und geometrischen Figuren zu folgen. Erstere führen mich zu anderen Gegenständen und gleichzeitig zu den obskursten Begegnungen. So erzählt mir beispielsweise ein Stein, wie ihn die Nacht besser aussehen lässt als das Tageslicht und eine Zeder beklagt sich, dass die anderen Zedern sie ausschließen würden und sie deswegen Angst hätte, mit ihnen zu sprechen – nicht zu vergessen die Straßenlaterne, die sich auf existentialistischer Ebene mit Leben und Tod auseinandersetzt.
Folge ich hingegen den Formen, erklären mir die in dieser Weise markierten Dinge in jovialem Ton die unterschiedlichen Spielmechaniken. Ich lerne beispielsweise zu singen und so andere Gegenstände auf mich aufmerksam zu machen, mich mit gleichen oder ähnlichen Objekten zusammenzuschließen, zu tanzen und so neue Dinge zu kreieren, oder selbst auf Knopfdruck Gedanken zu formulieren. Die wichtigste Mechanik allerdings ist das Auf- und Absteigen. Mittels der Maustasten kann ich mich in jeweils größere oder kleinere Gegenstände und Wesen hineinversetzen und ab einer bestimmten Größe bis auf die Ebene der ebenfalls durch die Gegend manövrierbaren Galaxien hinauf beziehungsweise in die subatomare Ebene hinab reisen. Auf den unterschiedlichen Ebenen treffe ich wiederum auf verschiedenste Dinge mit verschiedensten Meinungen und teilweise recht forscher Attitüde. Später erlerne ich die Fähigkeit, mich in in jedes Etwas zu verwandeln, über das ich schon einmal die Kontrolle hatte. So kann ich beispielsweise frei nach Gusto voll ausgeformte Sonnen oder Galaxien in der atomaren Ebene platzieren.
Bin ich genug herumgereist und habe alle Fähigkeiten kennengelernt, führt mich das Spiel wieder an meine Ausgangsposition zurück. Dort konfrontiert mich Everything mit einer neuen, direkt aus dem wirren Kopf von Salvador Dalí entsprungenen Dimension, durch die ich mich hin zu einem enorm überraschenden Ende bewege, zumindest auf den ersten Blick. Denn nach dem, was in einem normalen Spiel als Abspann fungieren würde, teilt mir das Spiel mit Feuerwerkseffekten und großen Texteinblendungen mit, dass ich gerade das Tutorial überstanden hätte – und das nach etlichen Stunden Spielzeit.
Selbst die Bezeichnung als experimentelles Spiel greift bei Everything allerdings noch zu kurz. Vielmehr ist es ein spielbarer Diskurs, der sich mit dem Werk des Philosophen Alan Watts auseinandersetzt. Das geschieht mittels einer dritten Art Marker, den ich auf meinen Reisen anvisieren kann. Ähnlich wie in The Witness finden sich dort auch in Everything Audio-Aufzeichnungen, die allerdings nicht von Schauspielern vorgetragene Zitate großer Wissenschaftler und Denker enthalten, sondern Original-Aufnahmen von Watts‘ Vorträgen über die Natur des Universums, die der Philosoph zwischen 1965 und 1973 hält. Das Besondere daran: Watts gilt als das wichtigste Bindeglied zwischen fernöstlichen Philosophien wie Hinduismus, Buddhismus und Taoismus und der westlichen Philosophie und vertritt die Weltsicht, dass alle Wesenheiten nur verschiedene Aspekte eines großen Ganzen sind – eben des titelgebenden Everything. Watts‘ äußerst eloquente Ausführungen, die sich perfekt über die minimalistische aber stimmige Untermalung mit von der Umgebung und den unterschiedlichen Wesen und Gegenständen erzeugten Geräuschen legen, wirken so nur auf den ersten Blick konträr zur skurrilen Optik und Spielmechanik. Denn wenn alle Dinge keine eigenständigen Konstrukte, sondern nur andere Auslegungen einer übergeordneten Identität sind, warum sollte ich mich dann nicht in einen riesigen Winterstiefel verwandeln und durch Straßenschluchten zwischen Autos hindurch rollen oder als Form gewordene Tonresonanz durch die Galaxie sausen dürfen? Dass dieses Lagerfeuer allerdings meint, mich ständig beleidigen zu müssen, lotet dann doch die Grenzen des bei mir Erlaubten aus.