Was ist eigentlich investigativer Spielejournalismus?
Neun Monate vor der Veröffentlichung von Call of Duty: Modern Warfare 3 passierte das, was eigentlich nicht passieren darf: Jeder wusste plötzlich davon. Nun wussten wahrscheinlich auch zehn Monate vorher bereits die meisten Menschen davon, weil das Durchschauen des Fortsetzungsrhythmus der Spielreihe nicht gerade dem Knacken des Da Vinci-Codes gleichkommt. Nur wusste man jetzt von Dingen, die zum damaligen Zeitpunkt noch niemanden etwas angingen. Handlungsdetails, Charakterkonzepte, Spielmodi, alles war für jeden sichtbar, obwohl diese Einzelheiten die Firmenrechner noch für längere Zeit nicht verlassen sollten. Grund für diese Marketingkatastrophe, welche die von langer Hand geplante Werbestrategie über den Haufen warf und ein massives Umdenken erforderte, war die Verbreitung der Informationen durch die Website Kotaku. Und genau diese Art der Berichterstattung wurde ihr mittlerweile zum Verhängnis.
“It wasn’t cool.” (Eric Hirshberg)
In einem etwas zu lang geratenen Lamento gab Kotaku nun begannt, für seinen wertvollen Investigativjournalismus mit Ignoranz seitens einiger Publisher bestraft worden zu sein. Ubisoft und Bethesda, zu einem früheren Zeitpunkt ebenfalls Opfer von durch Kotaku ausgeschlachteten Informationslecks, ziehen es seitdem vor, jegliche Unterstützung ihrer journalistischen Tätigkeit durch Muster und Interviews zu verwehren. Eine kindische Trotzreaktion, aber auch eine Offenbarung. Schließlich gewährt dieser bizarre Zwist einen schaurig schönen Einblick in die verheerend symbiotische Beziehung von Spielefirmen und –presse. Nicht zuletzt, weil der bedauernswerte Siegfried Kotaku nun öffentlich bekannt gibt, dass er es ohne den verprellten Roy ziemlich schwer hat.
Auf wessen Seite man sich in dieser Angelegenheit schlagen sollte, mag für viele zunächst offensichtlich erscheinen, doch ergreift man, so oder so, für einen Verlierer Partei. Das unsanktionierte Recht auf eine freie und ehrliche Berichterstattung ist ein zentraler Bestandteil jeglicher Pressearbeit und auf eine gewisse Art fühlt es sich so an, als werde diese nun seitens der involvierten Publisher zumindest erschwert. Doch bevor man Kotaku nun sein Aua pustet, sollte man nicht außer Acht lassen, dass es die erlittene Schramme durchaus provoziert hat. Das, was Stephen Totilo in seinem Statement auf der Seite so großspurig als aufdeckende Berichte über Wahrheiten lobpreist, sind zu einem Teil Wahrheiten, die mit der Reaktion der Publisher nichts zu tun haben und zu einem anderen Teil Wahrheiten, deren Ausrufung für niemanden einen messbaren Mehrwert haben.
Die Wahrheit. Fast.
Was Kotaku gemacht hat, ist nichts anderes als das Publizieren fremden, geistigen Eigentums. Es geht hier nicht um unscharfe Fotos eines möglicherweise neuen iPhone-Gehäuses oder gar um die Enthüllung von globalen Überwachungsmethoden durch nationale Geheimdienste. Kotaku ist kein Wikileaks, weil seine Enthüllungen nicht dem Interesse einer größeren Gemeinschaft dienen, sondern der Steigerung der eigenen Klickzahlen. Der Vorwand, im Interesse der eigenen Leserschaft zu handeln, kann diesen Sachverhalt kaum verschleiern. Auch wirken Artikel dieser Art besonders kontraproduktiv, wenn man ein Videospiel nicht nur als ein Produkt betrachtet, sondern als eine kreative Ausdrucksform. Wer will schließlich schon, dass die eigene unfertige Arbeit, in all ihrer Ungeschliffenheit und fehlender Kontextualisierung, plötzlich von hunderttausenden Leuten begutachtet und bewertet werden kann? Klar, ich rede hier immer noch von Millionenprojekten wie Call of Duty, Assassin’s Creed oder Fallout und nicht von Kurt Cobains jugendlichen Demo-Tapes. Doch selbst wenn durch solche Leaks vermutlich keine zerbrechlichen Künstlerseelen verletzt werden, spucken sie dennoch auf die Intentionen und die Gestaltungskraft, die allen Werken zugrunde liegen.
Außerdem: Der Endgegner in Fallout 4 heißt Vaultemort.
Aber gut, von mir aus, den passionierten Shooter-Veteranen xXx.NoSCoPeGoD98.xXx mag das alles ja vielleicht wirklich interessieren. Die Namen der Generäle, der Zombiemodus, das Geschlecht des Begleithundes seines Soldaten. Nur lesen zusätzlich noch die Konkurrenten und die Aktionäre mit, was neben den angesprochenen Marketingumstrukturierungen zusätzlich für Ablenkung von der Spielentwicklung sorgt. Im ärgsten Fall kann sich die so hochgehaltene Wahrheit also durchaus geschäftsschädigend bemerkbar machen oder gar Einfluss auf die weitere Arbeit an einem Titel nehmen. Wahrscheinlich ist aber genau dieser Punkt einer, den man Kotaku hoch anrechnen muss. Sich nicht zu scheuen, immer wieder kräftig in jene Hand zu beißen, die jeden Morgen das eigene Futter bereitstellt, ist eine Wesensart, die der Großteil der weiteren Spielepresse seit jeher vermissen lässt. Dass dabei eine gewisse Rücksichtslosigkeit und Lebensmüdigkeit als Nebenwirkung auftreten, ist im Vergleich zu den eigentlichen Inhalten der Berichte der deutlich spannendere Aspekt.
Dass Kotaku verfrüht Flickenteppiche an Informationen raushaut, zu denen kein Mensch Zugang haben sollte, ist ein Teil ihres Selbstverständnisses von Journalismus und in einer Branche, die sonst nicht viel mehr als paraphrasierte PR-Mails raushaut, ein erfrischender Farbtupfer. Mit der Wahrheit hat das aber wenig zu tun, denn eine willkürliche Sammlung von Fakten ergibt beileibe keine zusammenhängende und nachvollziehbare Reportage. Dass Publisher daraufhin die Bemusterung und die Kontaktaufnahme verweigern, ist zwar ein wenig affig, aber im Hinblick darauf, welch massives Schadenspotenzial für sie auf dem Spiel steht, ihnen kaum zu verdenken. Und ganz egal, welche Seite sich nun eher im Recht befinden mag und welche nicht, irgendwann raufen sich beide doch eh wieder zusammen. Dann ist alles wie vorher, weil es gar nicht anders funktionieren kann. Schließlich ist der eine Siegfried und der andere ist Roy. Solange, bis wieder einer den weißen Tiger nicht im Griff hat.