Ludum Dare #24 – Reportage Teil 9

Ludum Dare #24 - Reportage Teil 9

Ludum Dare #24 – Reportage Teil 1 / 2 / 3 / 4 / 5 / 6 / 7 / 8 / 9 / tl;dr

Schon wieder ist ein Ludum Dare fast vorbei. Schon wieder habe ich alle 1.406 Spiele gespielt. Schon wieder neigt sich die Reportage ihrem Ende zu — hier also nun der letzte Artikel (es wird aber um 15:00 Uhr noch ein wundervolles Extra-Schmankerl für euch geben, also unbedingt nochmal reinschauen).

Zum Abschluss möchte ich die ganze Thematik noch einmal umdrehen und deswegen ein paar Spiele unter dem Aspekt der Devolution betrachten. Das eigentlich nicht der Biologie entstammende Konzept erweist sich dennoch als eine wichtige und interessante Perspektive. Sie zeigt nämlich, dass nicht jede Zurückentwicklung automatisch als Rückschritt interpretiert werden muss.

“Nur ein Narr macht keine Experimente.”
— Quelle: Charles Darwin


(TOWER of Evolution von SiENcE)

Was aber bezeichne ich überhaupt als Devolution? Devolution ist für mich die Abkehr von einer komplexen, bereits aus etwas entwickelten Struktur in eine einfachere Vorgängerstufe. Wer nun TOWER of Evolution gespielt hat und meine Definition liest, kann eigentlich nur zu schmunzeln beginnen.

Hier geht es eigentlich um nichts anderes, als dass man einen Turm erklimmen soll. Dabei gilt es Hindernisse und herumlaufende Gegner zu umgehen bzw. zu überspringen. Dazu begegnet man noch einsammelbaren Evolutionskristallen, die die Hauptfigur — der zu Beginn ein Affe ist — immer wieder zur nächsten Evolutionsstufe bringt. Neben dem jeweiligen Gewand verbessert sich ganz graduell, kaum bemerkbar die Sprung- und Rennfähigkeit (jedenfalls bildete ich mir das beim ersten Spielen ein). Diese Kristalle sind zugleich ein Neustartpunkt. Wann immer man also einem Feind oder Stachel entgegenrennt, wird man an diesen Punkt zurückgesetzt. Ein simples Jump’n’Run-Spiel also (obwohl es ein durchaus herausforderndes Level-Design hat)?

Ganz im Gegenteil. TOWER of Evolution ist ein Meta-Spiel über Devolution. Die Evolutionskristalle sind schließlich kein Muss, um das Spiel zu gewinnen. Auch mit dem Affen kann man sein Ziel erreichen, nur eben sichtlich erschwert. Wer es sich nicht leichter macht, perfektioniert das eigene Spielverhalten trotz der so ‘niedrigen’ Figurenebene des Affen. Das Verhindern von Evolution kann damit zur Perfektionierung der eigenen Fähigkeiten führen.

“Evolution is individual — devolution is collective.”
— Quelle: Martin Henry Fischer


(Ages of Irving von GreyShock)

Devolution kann alles mögliche betreffen, so auch die Menschlichkeit der Menschen selbst (don’t think about it, don’t think about it, don’t think about it…). Nehmen wir als Beispiel den Protagonisten des nach ihm benannten, vergleichsweise brutalen Detektiv-Folter-Spiels Ages of Irving.

Erst in einer Welt, deren Gesellschaft so verkümmert ist, können Dinge wie in Ages of Irving unbeachtet geschehen. Irving versucht an Informationen über verschiedene Verbrechen heranzukommen, allerdings nicht auf legalem Wege. Nur mit dem optimalen Einsatz von Psychotricks und wirklich irrsinnig fiesen Folterinstrumenten (wie einem Zahnarztbohrer oder Elektroschocks) kann Irving die Aufklärung der Kriminalfälle vorantreiben — aber schreitet er nicht damit selbst zurück auf das Niveau derjenigen, die diese Taten durchführten?

Es zeigt sich ein moralisches Dilemma: Um Gutes zu vollbringen, muss man selbst schlecht handeln. Selten wurde dies so klar in einem Pixel-Adventure verdeutlicht wie in dem an Film noir erinnernden Ages or Irving.

“Im Fortschritt der Geschichte nimmt die Phantasie ab und das Denken zu.”
— Quelle: Charles Darwin


(Psychiatric Evaluation von ConflictiveLabs)

Devolution ist jedoch nicht immer nur ein eindeutiger Wechsel von einer positiv konnutierten Extremposition in die negativ konnotierte, also wie beispielsweise von ‘gut’ zu ‘böse’ oder von ‘erhaben’ zu ‘gering’. Nehmen wir ein spielebezogenes Beispiel: Wahrscheinlich würde fast jede Person die Entwicklung von zweidimensionaler Grafik hin zur Dreidimensionalität für gut befinden. Aber bereits in dem sechsten Reportagebeitrag schrieb ich als Fazit, dass Fortschritt nicht automatisch etwas Positives ist, wenn man es nicht in Relation setzt.

Psychiatric Evaluation illustriert das perfekt. Als ich es das erste Mal spielte, war ich im ersten Moment komplett desinteressiert. Es startet als ein reines Textadventure, wodurch ich entnervt aufseufzte. Ich gab der ganzen Angelegenheit dennoch eine Chance: Type PLAY to begin your adventure.”, “PLAY”.

Ich war gelangweilt. “You are in your room. You just woke up and everything feels old, like outdated.”, stimmt. “Maybe you should talk to the doctor. There is a [DOCTOR]”, na gut. Als Insasse einer psychiatrischen Einrichtung steht man also scheinbar sinnlos in seinem Zimmer. Meine Finger glitten über die Tastatur, “Talk doctor”. Was mich dann erwartete, ließ meine Augen glänzen. “The world is starting to look better.”

Alles wurde auf einmal als großes ASCII-Spielfeld sichtbar. Mit meinem kleinen Rauten-Freund bewegte ich mich auf das rechts neben mir stehende D zu. Plötzlich gibt es eine komplett animierte Welt! Der Doktor trägt eine Brille, ich rempel ihn immer wieder an — bis plötzlich selbst die Animationen noch besser aussehen als zuvor.

Ich erkunde freudig die gesamte Psychiatrie, wobei jedoch der geistige Zustand meines Avatars sich verschlechtert; insbesondere, wenn ich andere Patienten berühre. Plötzlich erscheint alles wieder ‘schlechter’. Ich bewege mich automatisch zurück zur ASCII- und Texteingabe-Ebene, wenn ich nicht immer wieder mit einem der Ärzte spreche. Irgendwann bemerke ich drei Geister im Gebäude, doch auf der animierten Ebene kann ich nicht mit ihnen sprechen, auf der Texteingabeebene hingegen schon. “talk ghost”. Sie offenbaren mir ein Geheimnis, ein Passwort — nicht jedoch auf der Ebene der Bilder. Auch den dritten Geist selbst ist nur mit einem Abwenden der Seh- und Spielgewohnheiten zugänglich.

Es zeigt sich eine eindeutige Botschaft: Das Denken auf nur einer Ebene, die man unreflektiert für gut befindet, ist zum Scheitern verurteilt. Auch die ansonsten als ‘niederen’ bezeichneten Ebenen haben durchaus ihre Existenzberechtigung und man muss mit ihnen umzugehen sowie zu schätzen wissen. In den kleinen Dingen kann sich Enormes verbergen.

So auch im Ludum Dare, dessen TeilnehmerInnen ich für viele neue Erkenntnisse und Erfahrungen danken möchte.
Es war wieder wunderschön.

Liebsten Dank,
Sebastian

Weitere Empfehlungen:

E-VOLV
Ein einfacher Sidescroller-Shooter, der jedoch einen wunderbaren Zusatz hat: Sobald ein gegnerisches Raumschiff abgeschosssen wurde, kann man dessen Geschütze einsammeln und damit an sich selbst binden. Riesige Geometrieraumschiffmonstren sind bekanntlich ein Kindheitstraum.

Robo[R]Evolution
Hierbei handelt es sich um eines der wenigen wirklich guten Tower-Defense-Spiele im Rahmen des 24. Ludum Dares, in dem man auch noch — neben den untertänigen Selbstschussanlagen — selbst einen Roboter steuert, um seinen eigenen Kern zu verteidigen.

Watercolor Wheel Evolution
Die dreijährige Tochter des Entwicklers hat mit Wasserfarbe sämtliche Elemente dieses kleinen Einsammel-und-Ausweich-Spielchens gezeichnet! Absolute Empfehlung, einfach nur weil es so schön ist und dazu noch selbstgemachte Musik enthält. Liebe für Eigenproduktion!