Auch im Jahr 207X geht es in Kneipengesprächen
noch um Sex, Liebe, Gott und die Welt.
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Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit. Das sagt zumindest ein Sprichwort. Ob das Sprichwort die Wahrheit sagt, ist wiederum eine andere Frage. Aber kommen wir erst mal zu den Betrunkenen zurück. Von denen tauchen nämlich die ein oder anderen in der Barkeeping-Simulation VA-11 Hall-A auf. Den Namen dieses Spiels zu buchstabieren fällt schon nüchtern schwer. Aussprechen lässt sich das futuristische Leetspeak-Konstrukt allerdings auch lallend: Vallhalla.
Ob und wie betrunken die Gäste die Bar mit dem sperrigen Namen verlassen, liegt in den Händen von Jill, der barkeependen Protagonistin. Denn die wollen nicht nur Getränke, sondern auch Unterhaltung. Direkten Einfluss auf die automatisch ablaufenden Dialoge kann ich nicht nehmen. Stattdessen verändern die aus fünf Zutaten bestehenden Cocktails den Verlauf der Geschichte. Wenn ich mich an den Lieblingsdrink des Stammgastes erinnere, fällt das positiv auf. Mische ich ihn hochprozentiger, kann das seine Zunge lockern… oder schiebe ich doch lieber einen alkoholfreien Cocktail über den Tresen, damit er einen klaren Kopf behält?
Den Dialog einer Visual Novel – denn das ist VA-11 Hall-A letztendlich – über ein Minispiel darzustellen, hebt es vom Rest des mit Massenware überfüllten Genres ab. Nicht nur bettet sich das Gameplay so ganz natürlich in den Dialog ein, es verhindert auch allzu überlegte Entscheidungen. Es gibt keine offensichtlichen Antworten. Die Wahrheit liegt auf dem Boden des Glases und zwingt mich immer wieder zu Überlegungen, die über ein einfaches Wählen zwischen dem “ja” und nein” eines Videospieldialogs hinausgehen.
Jill selbst ist keine stille Protagonistin. Sie hat ein eigenes Leben, das vor allem zwischen den Arbeitstagen stattfindet. Dann sitzt sie mit ihrer Katze in einem winzigen Apartment und liest News im Reddit-Pendant der Welt von Glitch City, gibt ihr hart verdientes Geld für Dekoration aus oder spart, um am Monatsende die Stromrechnung begleichen zu können.
Diese Ruhepausen sind auch für mich als Spieler wichtig, um die Anekdoten des Vorabends noch einmal in Ruhe verarbeiten und in den Kontext der vielen, sich langsam entfaltenden und immer wieder kreuzenden Handlungsstränge stellen zu können. Im Verlauf des Spiels setzt sich aus vielen kleinen Fragmenten und dutzenden Figuren das Bild einer lebendigen Welt zusammen, die trotz des futuristischen Anstrichs nicht all zu weit von der echten Welt entfernt ist.
Wer die Klischees des Anime nicht gewohnt ist, wird den Lolita-Look einiger Figuren ebenso abschreckend finden wie die Ecchi-Anspielungen in den Dialogen. Dahinter verbirgt sich aber mehr als die Harems- und Waifu-Fantasien vieler Datingsimulationen. Die vielen queeren Figuren sind mehr als billige Abziehbilder, die Fantasien eines heterosexuellen Publikums bedienen sollen. VA-11 Hall-A spricht offen über Sex und Sexualität, lässt Figuren ausführlich über Menstruation diskutieren und scheut auch vor vermeintlichen Tabus nicht zurück.
Dabei findet es nicht immer den richtigen Ton. Beispielsweise erzählt die als minderjährige auftretende Roboter-Sexarbeiterin Dorothy davon, dass sie ohne das Upgrade auf den erwachsenen Körper einen lukrativen Fetisch bedient… und sich vor übergriffigen Kunden mit illegalen Selbstverteidigungssystemen schützt. In solchen Momenten ist nicht ganz klar, ob hier ein Witz zu weit ging oder die Macher_innen des Spiels sexualisierte Gewalt kommentieren wollten. VA-11 Hall-A betrachtet sich selbst mit so viel Selbstironie, dass die Unterscheidung manchmal schwer fällt.
Was anfangs wie eine Abfolge belanglosen Smalltalks wirkt, entwickelt sich mit der Zeit zu einer emotionalen Achterbahnfahrt. Melancholische und einsichtige Momente wechseln sich ab mit einem Hackerkrimi, Prominews, Beziehungsdramen, Sex und Liebe… und es ist mir überlassen, in welche Geschichten ich mich einmischen will. So bedeutungsschwer und mythologisch sich der Name gibt, so alltäglich und nachvollziehbar sind die Probleme und Sorgen der Figuren – natürlich durch eine Linse aus Science-Fiction-Klischees gefiltert.
Trotz biomechanischer Körperteile und Cyberwarfare-Bedrohungen bleibt VA-11 Hall-A stets menschlich und trotz all der schlimmen Ereignisse zutiefst optimistisch. Das VA-11 Hall-A ist ein Ruheort für die Tapferen, die jeden Tag ihres Lebens kämpfen müssen und sich ihren abendlichen Fluffy Dream mit einem Schuss Karmotrine wirklich verdient haben. Und während ich die Zutaten in den Shaker werfe, denke ich über all das Gelesene nach. Denn in Wirklichkeit möchte Jill das Leben der Person vor dem Bildschirm verändern. Einen Cocktail nach dem anderen.